Träume in Kristall
erkältet hätte, und blieb vier, fünf Tage fest liegen, unfähig, sich aus dem Bett zu erheben. Da waren dann plötzlich in ihrem Inneren die Gestalten von Imamura und Sakiko so lebendig aufgestiegen, daß es ihr vorkam, als geschehe dies in einem Wunderspiegel in ihrem Kopf, und bei dieser Gelegenheit befiel sie ein Schwindel. Es schien ihr, das Zimmer wäre von unergründlicher Einsamkeit und Leere erfüllt.
Damals, als sie die Geschichte von Sakiko gehört, hatte sie gemeint, die schöne Träne wäre aus ihrem übervollen Herzen gekommen; war es aber nicht vielmehr eine Träne gewesen, die besagte: jetzt ist alles aus …? Der gefürchtete Tag war schließlich da. Nun würde sie von Imamura wie von Sakiko durch eine immer größere Ferne getrennt sein. Ein neues, junges Leben würde sie beiseite drängen. Über kurzem würden die beiden ein Ehepaar sein wie viele andere auch. Der mit der Freundschaft aus ihren ledigen Tagen ausgefüllte Spalt zwischen den beiden würde verschwunden sein. Tsuruko konnte nicht einschlafen, bis am Morgen die ersten Straßenbahnen zu hören waren.
Trotzdem, und weil sie sich einbildete, daß doch, wenn sie schon keine Nachricht aus der Klinik schickten, gewiß Imamura einmal bei ihr vorbeischauen würde, lauschte sie mit angespannten Ohren auf die Schritte draußen auf der Straße oder in den Korridoren des Apartmenthauses; schließlich aber, an einem kalten regnerischen Morgen, schrieb sie eine Postkarte. »An so einem schrecklichen Regentag kommt er bestimmt nicht, also wird es besser sein, wenn ich aufstehe und hingehe, sobald wir wieder schönes Wetter haben«, murmelte Tsuruko so mürrisch vor sich hin, daß sie es selber komisch fand.
An diesem Abend jedoch hörte sie am Eingang des Apartments Imamuras Stiefel knarren. Bis er aber in der Zimmertür erschien, hatte sich Tsuruko – warum wohl? – eingebildet, es wäre Sakiko, die da käme. So errötete sie überrascht, als sie ihn sah, und richtete sich halb auf: »Oh, da habe ich euch eine schrecklich übertriebene Karte geschickt, und dabei ist eigentlich gar nichts weiter. Was mach ich jetzt?«
»Jedenfalls bleibst du besser liegen.« Ohne viel Umstände zog Imamura seinen Regenmantel aus und holte sich selbst einen Stuhl heran. »Hast du Fieber?« »Ach wo! Ich habe doch kein Fieber. Es ist wirklich gar nichts.«
»So siehst du aber im Gesicht nicht gerade aus. Leg dich nur bitte wieder hin.« Imamura schien die Hand auf den Umschlag an der Bettdecke legen zu wollen. Folgsam ließ sich Tsuruko zurückfallen. Dann hielt sie lächelnd die Hände einmal an ihre Wangen, als versuchte sie das Fieber zu messen. Schon streckte Imamura, davon angelockt, seine Hand aus, sagte aber dann: »Das geht ja nicht. Ich bin draußen herumgelaufen, da sind meine Hände eisig.« Und verschränkte wieder die Arme wie zuvor. »Und Sakiko?«
»Eine Frau braucht so viel Vorbereitung, wenn sie ausgehen will, daß ich zunächst einmal gekommen bin, um nach dir zu schauen.« Hierauf schwieg er eine Weile, zeigte das von Tsuruko so geliebte ruhige Lächeln, schließlich aber fragte er: »Und wovon lebst du? Ich fürchte, du wirst eben doch aufstehen und dir selber etwas kochen.« »Das läßt sich nicht ändern.«
»Wäre es denn deshalb nicht wirklich besser, du kämst ganz in mein Haus?«
»Ach, das wäre ja …« Tsuruko bewegte wie ein Kind ihren Kopf auf dem Kissen zweimal, dreimal hin und her, und weil ihr dabei die Tranen kamen, zog sie sich verstohlen die Decke übers Gesicht. Dann fiel ihr ein, daß Imamura auf dem Rückweg von der Bibliothek dasselbe schon einmal gesagt hatte, und also wischte sie mit der Decke die Tränen fort und zeigte wieder ihr Gesicht. Wie damals sahen Imamuras Augen auch jetzt auf sie herab wie auf ein Kind, und in ihrer Verwirrung begann sie: »Ach, weißt du, das von neulich, – ich habe darüber nachgedacht, und es war wirklich so. Das mit dem Überlegenheitsgefühl gegenüber meiner älteren Schwester.« Hierauf erzählte sie fast übermütig von ihrer Erinnerung an jenes Herbstfest in ihren Kindertagen.
»Nun also! Siehst du!« Und weil Imamura ihr mit immer neuem nachdrücklichem Kopfnicken zuhörte, wurde Tsuruko noch lebhafter, erzählte noch unbekümmerter eine um die andere Geschichte von früher, von daheim, und dabei schien ihr, als hätte sie niemals bisher in ihrem ganzen Leben soviel geredet; aber nun quoll etwas aus ihrem Inneren herauf, unauförlich, von dem sie das Gefühl hatte, sie atme
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