Träume in Kristall
ihre Gewohnheit sehr bald in ihr Apartment zurück.
Zwar bemühte sie sich, jedesmal einen Vorwand zu erfinden, um Sakiko zu Hause zu besuchen, doch Sakiko und Imamura, ohne auch nur Notiz zu nehmen von solchen Vorwänden, freuten sich einfach darüber, daß jemand wie Tsuruko zu ihnen kam. Dies wiederum begriff Tsuruko durchaus und ging dennoch ruhelos Tag für Tag in die Bibliothek mit dem Entschluß, wieder einen Vorwand zu suchen.
Als sie an einem bewölkten Tag kurz vor dem Winter plötzlich den Kopf hob, fuhr Tsuruko von dem Abendrot draußen vorm Fenster – und es war noch nicht vier Uhr – mit einem Gefühl der Einsamkeit auf, trat aus dem Lesesaal auf den Gang hinaus und betrachtete, ohne sie eigentlich zu lesen, die Zeitungen dort, und da irgendein warmer Schatten auf einmal ihren Kopf überragte, wandte sie sich um. Zu ihrer Überraschung war es Imamura. Mit einem Bück, als ob er ein Kind betrachtete, schaute er Tsuruko von oben herab an. Sie war verwirrt von diesem Blick. Zudem hatte er noch nie so nahe vor ihr gestanden. Tsuruko wurde rot. »Du bist es? Habe ich mich erschrocken!« »Ich habe nur eben was nachgeschlagen.« »Also bist du schon fertig?«
»Ja, ich denke, ich werde jetzt heimgehen.« »Dann gehe ich auch.«
Tsuruko selbst bemerkte es: ihre leise Stimme war so nachgiebig sanf, als ob sie zärtlich mit einem Geliebten spräche. Und es war nur natürlich, daß die Leute ringsum ungeniert zu ihnen hersahen.
Sie traten aus dem Bibliotheksgebäude, und ohne daß einer von beiden es vorgeschlagen hätte, liefen sie in die ihrem Heimweg entgegengesetzte Richtung, Tsuruko, fortgerissen von einem Gefühl, als träumte sie einen fernen Traum, redete kein Wort. Auch Imamura schwieg. Hätten sie darüber nachgedacht, weshalb sie in eine solche Richtung gingen, würde es ihnen wohl seltsam gewesen sein; doch schien es ihnen durchaus nicht unnatürlich. Unversehens gerieten sie in ein Stadtviertel, das ihnen fremd war. Da sagte Imamura plötzlich in einem wie beiläufigen Tonfall: »Sag mal, wie lange willst du es eigentlich so treiben?«
Tsuruko wußte nicht recht, was er eigentlich meinte. Immerhin spürte sie, daß er von ihrem eigenen Leben sprach, und während ein Gefühl schrecklicher Einsamkeit sie würgte, fragte sie: »Wie lange? Warum fragst du so etwas?« »Aus keinem besonderen Grund, nur eben …« »Ich mag das nicht.« »Wieso?« »Weil … ich weiß es ja selber nicht.«
»Und eben deshalb magst du nicht darüber reden, wie?«
»Wenn mich, weißt du, jemand das fragt, überläuf es mich kalt. Bin ich wütend. Denke: laßt mich doch machen!«
Imamura schwieg. Tsuruko versuchte noch einmal an alle die Tage zurückzudenken: wie sie, irgendwie getrieben, irgendwie aufgerüttelt, in die Hauptstadt gekommen war, dann aber unschlüssig geschwankt hatte, ob sie in eine höhere Schule eintreten sollte, ob sie Kurse etwa in Kochen oder in westlicher Schneiderei nehmen sollte oder Unterricht bei einem Meister in ihrem geliebten Malen, ob sie schließlich nicht Stenotypistin werden sollte, und wie sie so allmählich angesteckt worden war von dem Verlorenheitsgefühl junger Frauen, die ohne ihre Familie in der Großstadt leben. Und sie sagte: »Wie auch immer, – ich bin mit meinem jetzigen Zustand wirklich zufrieden. Keineswegs ist mein inneres Gleichgewicht gestört. Trotzdem, und ich weiß nicht warum: wenn jemand mich darauf anstößt, reagiere ich betroffen.« Imamura schwieg weiter.
»Ach, und jetzt sagst du kein Wort. Rede ich allein vor mich hin.«
»Nein, weißt du, ich überlege nur, daß es besser wäre, du kämst ganz zu uns.«
Tsuruko blieb erschrocken stehen. Sie sah Imamura an, senkte dann plötzlich den Blick, und Tränen begannen ihr in die Augen zu steigen.
»Was ist bloß los mit dir?« Auch Imamura hielt im Gehen inne und wandte sich um. »Ach, das ist ja albern.«
Dabei schwang in seinen Worten eine Welle von Zuneigung mit. Tsuruko wischte sich mit einer kindlichen Gebärde die Tränen ab: »Es ist wirklich albern von mir.«
Beide lachten sie, und wieder schwiegen sie dann. Bis
ans Ende der Welt hätte Tsuruko mit Imamura so gehen mögen. Daß es Imamuras Mitgefühl war, wenn er sie, um ihr Wärme zu bieten, in sein glückliches Haus aufnehmen wollte, begriff sie sehr gut, und obgleich sie sich bei dem Gedanken, daß Imamura besser noch als sie selbst ihre augenblickliche Stimmung dem Leben gegenüber kannte, tatsächlich erbärmlich vorkam wie eine
Weitere Kostenlose Bücher