Träume jenseits des Meeres: Roman
Rest der Familie war der Zutritt zum Gerichtssaal strikt verwehrt worden, und dafür war sie dankbar. Es wäre ohnehin schon schwer genug, und dass sie Zeugen ihrer tiefen Scham wurden, war das Letzte, was sie wollte.
Sie schmiegte sich an Susan und klammerte sich mit beiden Händen fest an ihren Arm, als die Anklagen und Millicents Aussage verlesen wurden. Es war, als wären diese schrecklichen Dinge einer anderen zugestoßen – als hätte sie erneut ihren sterblichen Körper verlassen und sähe aus der Ferne zu.
Der Arzt leistete den Eid, und seine Aussage war klar; er beschrieb ihre Verletzungen allgemein verständlich, so dass jeder gut nachfühlen konnte, was ihr angetan worden war.
Der Schleier war erstickend, ihr rann der Schweiß über das Gesicht und durchnässte ihr Kleid, während es im Gerichtssaal immer heißer wurde und intimste Einzelheiten offengelegt wurden. Sie hatte keine Tränen mehr zu vergießen, hatte mit kalter, beinahe unpersönlicher Haltung hingenommen, dass ihr Schicksal besiegelt war und sie auf ihrer Suche nach Gerechtigkeit nicht mehr tun konnte.
»Die Anklage ruft Florence Collinson in den Zeugenstand.«
Millicent wappnete sich für das, was kommen würde. Sie traute Florence nicht. Würde sie die Wahrheit sagen und Susans Geheimnis aufdecken, damit alle es hörten? Oder würde sie sich hinter ihre gewohnten Lügen zurückziehen? Sie war sich unsicher, hoffte aber Susan zuliebe, dass es Letzteres sein würde. Vermutlich fände Florence es leichter, die Wahrheit zu verbiegen. Florence hatte sich ihren Vater bereits entfremdet, und die Enthüllung von Susans Affäre würde den Abgrund zwischen ihnen nur verbreitern und die Familie auseinanderreißen.
»Die Zeugin ist nicht da, Euer Ehren«, verkündete der Gerichtsdiener, als er allein aus dem Nebenzimmer kam. »Es hat den Anschein, als wolle sie nicht aussagen.« Er legte dem Richter eine Notiz vor.
Hawkins brummelte vor sich hin, als er die Notiz las und beiseitelegte. »Man wird sie wegen Missachtung des Gerichts belangen«, knurrte er. »Kümmern Sie sich darum, wenn die Verhandlungen heute zu Ende sind, Gerichtsdiener.«
Millicent atmete erleichtert auf.
Susan neben ihr erstarrte. »Das Mädchen ist rettungslos verloren«, zischte sie. »Wie konnte sie es nur wagen, das Gericht zu verlassen?«
Millicent ergriff ihre Hand. Wenigstens Susan würde die Demütigung erspart bleiben. Florences Abwesenheit dürfte sie eigentlich alle nicht weiter überraschen. Sie war keine Frau, die jemals zugeben würde, welche Rolle sie bei den Vorkommnissen in jener Nacht gespielt hatte, und obwohl sie an andere höchste moralische Ansprüche stellte, konnte sie ihnen selbst kaum genügen.
Mary Johnson, die Frau des Reverends, sagte klar und prägnant aus, sie habe an dem betreffenden Abend gesehen, wie Millicent und Florence sich unterhielten, und könne bezeugen, dass Millicent kopflos fortgelaufen sei. Der Verteidiger hatte keine weiteren Fragen, man dankte ihr, und sie wurde entlassen.
Die Angeklagten wurden der Reihe nach vereidigt und legten dem Gericht ihre Geschichten vor. Millicent hörte fassungslos zu, wie jeder einen Zeugen präsentierte, der auf die Bibel schwor, dass der Angeklagte an jenem Abend nicht in der Nähe der Gasse gewesen sei.
Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, ihre Aussagen waren von den bohrenden Fragen der Anklage nicht ins Wanken zu bringen. Sie alle hatten bis in die frühen Morgenstunden Karten gespielt, und der Wirt der Kneipe bezeugte ihre Anwesenheit.
Mit sinkendem Mut erkannte Millicent, dass sie an alles gedacht hatten. Ihr Wort stand gegen das Wort von Millicent. Der Prozess, den sie so tapfer angestrengt hatte, wurde nach und nach zerpflückt.
»Miss Millicent Parker.«
»Sei tapfer«, murmelte Susan und half ihr auf die Beine. »Die Wahrheit wird herauskommen. Der Gerechtigkeit wird Genüge getan.«
Millicent betrachtete den Richter durch den Schleier. Ihre Beine zitterten so stark, dass sie kaum stehen konnte. Ihr Augenblick war gekommen – und sie hatte panische Angst davor.
»Sie können an Ihrem Platz bleiben, meine Liebe«, tönte Hawkins aufgesetzt freundlich. »Würden Sie bitte die Männer identifizieren, die Ihrer Meinung nach dieser gemeinen Tat schuldig sind? Sind sie hier im Gerichtssaal?«
Sie klammerte sich an das Geländer und zwang sich, die Angeklagten anzusehen. Sie holte tief Luft und rief sich ins Gedächtnis, dass sie hier in Sicherheit war. Nach dem heutigen
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