Träume jenseits des Meeres: Roman
sie richtige Wilde waren.
»Mir gefällt die Sache nicht«, murmelte Jonathan. »Was macht nur dieser Idiot, der prahlerisch mit seinem Schwert vor ihnen herumfuchtelt?«
Sein Onkel hatte keine Zeit zu antworten, denn ein Maori entriss dem Offizier plötzlich das Schwert und machte sich über den Strand aus dem Staub. Der Offizier zog die Pistole und schoss. Der Knall hallte in der verlassenen Bucht wider. Unter den Maoris brach große Bestürzung aus, als ihr Bruder tot umfiel.
Cook und die anderen zogen sich rasch in das kleine Boot zurück, in dem die Seeleute sich bereits in die Riemen legten. Die Maoris, verwirrt, verängstigt und wütend über die mysteriöse Art und Weise, den Tod herbeizuführen, drängten sich am Strand zusammen. Als sie merkten, dass sich der Mörder ihres Bruders entfernte, erhoben sie sich gleichzeitig und rissen unter zornigem Gebrüll ihre Speere hoch.
Die Seeleute ruderten noch schneller, und ein oder zwei Speere drangen in die Seiten des Bootes. Sie legten zu und waren bald außer Reichweite, so dass die restlichen Speere ins Wasser fielen, ohne Schaden anzurichten.
Jonathan eilte an die Reling und half den Männern an Bord, während die Maoris in ihre langen Kanus stiegen und sich erstaunlich schnell näherten. Cook ging mit langen Schritten ans Ruder und gab lauthals Befehle. Im Nu blähten sich die Segel, und der Anker war gelichtet.
Jonathan stand an Deck, das Haar vom Wind zerzaust, im Gesicht den scharfen Geschmack der Gischt, während die Endeavour durch die hohen Wogen pflügte. Am liebsten hätte er vor Freude laut aufgelacht – das war das Abenteuer, von dem er als Junge träumte, als er zugesehen hatte, wie die Schiffe an jenem winzigen Hafen in Cornwall vorbeisegelten.
Vier
April 1770, Mousehole
S
usan Penhalligan stand bei den anderen auf dem schmalen Kai und schaute aufs Meer hinaus. Der Wind zerrte an ihrem Haar und klebte ihr den langen Rock um die Beine; sie zog den Wollschal fester um die Schultern. Doch hatte die Kälte, die sie betäubte, nur wenig mit dem frostigen Wind zu tun – sie ging tiefer; es war, als kralle sich eine Hand aus dem Grab in ihr Innerstes.
Unerbittlich prallte das Meer gegen die graue, halbrunde Mole, die vom Kai aus wie ein kräftiger Arm ins Wasser ragte. Die Gischt spritzte hoch in den Himmel, wurde dort vom Wind gepackt, peitschte wie Eisnadeln in ihr Gesicht und durchnässte sie bis auf die Haut. Sie neigte ihr Kinn in den dürftigen Schutz des Schals, grub die kalten, nackten Zehen in die Kieselsteine, lehnte sich dem Wind entgegen und versuchte, seinem Ansturm Widerstand zu leisten. Nur vier von zehn Booten hatten es zurückgeschafft, und als es dunkel wurde, begann die Hoffnung mit dem trüben Licht zu schwinden.
Alle Steinkaten in Mousehole waren leer, doch in jedem Fenster brannte eine Laterne, um die Männer nach Hause zu leiten. Susan warf einen Blick auf ihre Mutter und merkte, dass Maud Penhalligan trotz ihres gefassten Äußeren vor Sorge verging. Sie bewegte kaum die Augenlider, während sie in die sturmgepeitschte Nacht starrte; ihre Hände drückten den zwölfjährigen Billy, den jüngsten ihrer sechs Söhne, ans Herz, als könne sie in diese Umarmung auch die anderen Söhne einschließen und diese und ihren Vater so am Leben erhalten.
Susan umfasste die schmale Taille ihrer Mutter, aber deren Anspannung ließ nicht nach. Die Mutter konzentrierte sich ganz auf die tobende See und hielt verzweifelt nach dem kleinen Boot Ausschau, das bestimmt darum kämpfte, nach Hause zurückzukehren. Die Frauen und Freundinnen ihrer Brüder klammerten sich Hilfe suchend aneinander, und Billy stand in der Umarmung seiner Mutter wie eine Statue. Ein gebrochenes Bein war der Grund, dass er nicht mit ihnen hinausgefahren war, und die Qual in seinen Augen war ein beredtes Zeichen seiner Erleichterung und seiner Schuldgefühle – er hatte das Meer schon immer gehasst.
Susan ließ den Blick über den Anleger schweifen und sah die vertrauten Gesichter all derer, die ihre Furcht miteinander teilten und wussten, wie schwer es war, guten Mutes zu bleiben und die Hoffnung aufrechtzuerhalten. Alte Männer nuckelten an ihrer Pfeife: Sie hatten blasse Augen in zerfurchten und von vielen Jahren auf See verwitterten Gesichtern. Frauen drängten sich schweigend zusammen. Es war nicht die Zeit für Gespräche oder Mutmaßungen, nicht einmal für Dank um alle, die zurückgekommen waren – solange nicht der Verbleib auch des letzten Bootes
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