Träume jenseits des Meeres: Roman
hinunter, bis sie das Plateau über dem Waldboden erreicht hatte.
Die Frau des Ältesten wartete auf sie; das Wissen vieler Jahre hatte sie rechtzeitig hergeführt. Ein kleines Feuer brannte, dessen Rauch aus dem Eingang der Höhle zog; sie sang die rituellen Lieder und schleifte das Steinwerkzeug an einem Fels.
Anabarru hockte sich an den Rand und murmelte die alten Gebete an die Ahnen, mit denen sie um Hilfe bei der bevorstehenden Tortur bat. Als sie mit ihren Gebeten fertig war, schaute sie eine Weile hinaus über den Wald und stieg dann über den Rand, um in die Geburtshöhle zu klettern.
Es war eine heilige Stätte, die nur Frauen betreten konnten – kein Mann, und sei er noch so bedeutend, durfte wissen, was hier vor sich ging: Die Rituale und Zeremonien um die Geburt eines Kindes durften außerhalb dieses Ortes nicht preisgegeben werden.
Die Höhle hatte die Form eines gaffenden Mundes im felsigen Hügel, und zwischen ihren aufgeplatzten Lippen bot sie eine prächtige Aussicht auf die beiden Hügel und den darunter liegenden Wald. An den Rand hatte man spezielle Büsche gepflanzt, deren Beeren und Blätter die Wehen erleichterten. Der Boden war übersät mit der Asche vieler Feuerstellen, kleinen Knochen von Tieren und Gräten von Fischen, die in den langen Stunden der Wache als Nahrung gedient hatten. Im Schlund der Höhle befanden sich ockerfarbene Zeichnungen, in denen Frauen ihre Geschichte erzählten. Die meisten waren verblasst, übermalt oder von Flechten überwuchert; an manchen Stellen, an denen Regen eingedrungen war, war auch der Fels abgebröckelt.
Die ältere Frau winkte Anabarru zu sich, und nach kurzer Untersuchung nickte sie zustimmend. »Es ist bald so weit. Nimm die Beeren hier, sie werden dir helfen.«
Anabarru legte ihren Talismanfelsbrocken hinten in die Höhle und sah, wie die Sonne darin funkelte, als sie sich auf den warmen Steinboden setzte und das Obst aß. Der Felsbrocken hatte sie durch ihr Exil begleitet, nun aber spürte sie eine gewisse Erleichterung, dass sie ihn hier zurücklassen konnte. Schließlich erinnerte er sie an die schlimmen Ereignisse, derentwegen sie jetzt in dieser Höhle saß. Sobald sie gereinigt wäre, hätte sie keine Verwendung mehr dafür.
Als der Schmerz stärker wurde und das Kind sich senkte, nahm die Frau des Ältesten ruhig und gelassen die Zügel in die Hand.
Anabarru erstickte beinahe am Rauch des Feuers, und die Beeren linderten die Schmerzen anscheinend auch nicht mehr. Schwitzend strengte sie sich an, ihren Körper vom Kind des Lizard zu befreien. Es schien sie nur ungern verlassen zu wollen. Dann wurde es mit einem Schwall aus Wasser und Blut geboren.
Die ältere Frau packte den zarten Hals und drehte ihn mit einem Ruck um, noch ehe das Kind den ersten Schrei ausstoßen und seinem Geist Leben einhauchen konnte. Geschafft.
Anabarru lag still da, während die Nabelschnur durchtrennt und abgebunden wurde. Ein letztes Mal pressen, und die Nachgeburt rutschte hinaus. Sie wurde unverzüglich ins qualmende Feuer gelegt, damit sie verbrannte, bevor man sie mit dem Kind begrub. Sie schloss die Augen, während die rituellen Gebete gesprochen wurden und die Waschzeremonie begann. Sie spürte kein Bedauern, kein Mitleid mit ihrem toten Kind; so war es bei ihnen schon von Anbeginn aller Zeiten gewesen. Jetzt konnte sie zu ihrer Familie zurückkehren.
Oktober 1769, vor Neuseeland
Der Schiffsjunge Nick sichtete die Landspitze, der dann Cook ihm zu Ehren den Namen Young Nicks Head gab. Zwei Tage später lagen sie in einer Bucht vor Anker, die Cook schließlich Poverty Bay nannte, da dort keine Vorräte für das Schiff zu finden waren. Sie hatten die von Abel Tasman entdeckte Nordinsel Neuseelands erreicht. Jonathan und die anderen Passagiere blieben an Bord, während Cook, seine Offiziere, die stärksten seiner Seeleute und der Dolmetscher aus Tahiti an Land gingen. Josiah reichte Jonathan das Fernrohr. »Meine Augen sind nicht so gut, mein Junge. Sag mir, was du siehst.«
Jonathan spähte durch das Messingrohr und berichtete, dass Cook und seine Begleiter auf furchterregende dunkelhäutige Krieger stießen, die am Körper und im Gesicht tätowiert waren und deren Empfang alles andere als freundlich wirkte. Sie standen singend und mit den Füßen stampfend am Ufer, machten eigenartige, ziemlich einschüchternde Gesten, streckten die Zunge heraus und rissen die starren Augen weit auf. Sie trugen Speere und Keulen, und es bestand kein Zweifel, dass
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