Träume jenseits des Meeres: Roman
während sie ihrer Geschichte folgte, die mit Ocker an die heilige Wand gemalt worden war. Alles war da. Die Entführung, der Mord an ihrem Vergewaltiger, die Geburt und der Tod des Kindes, das sie nicht hatte behalten dürfen.
Fast ohne Gefühlsregung betrachtete sie die schlichten Zeichnungen, denn obwohl ihre Zeit in der Verbannung von Angst und Gefahren geprägt war, hatte Anabarru sie überstanden und war geläutert wieder in den Stamm aufgenommen worden. Der Tod des Kindes war ein notwendiger Teil dieser Reinigung gewesen. Die Reinheit des Blutes im Stamm musste gewahrt werden, das Produkt einer Vergewaltigung durch einen Lizard durfte nicht am Leben bleiben.
Anabarru wischte sich Schweißtropfen aus den Augen und blickte hinaus über das Land. An jenem Tag vor langer Zeit hatte sie die Geburtshöhle verlassen, sobald die Rituale beendet waren. Lächelnd dachte sie daran, wie leidenschaftlich Watpipa sie in jener ersten Nacht genommen hatte. Unersättlich war er gewesen, und sie hatte sich an ihn geklammert, hatte seinen Körper und die Stärke seiner schützenden Arme genossen. Nach jener Nacht hatte sich schon bald ihr Sohn angekündigt, ein sicheres Zeichen dafür, dass die Geister sie wieder einmal mit Wohlwollen betrachtet hatten.
Sie kehrte aus ihren Erinnerungen in die Gegenwart zurück und schaute hinaus zur Sonne, die rasch hinter den Zwillingsbergen unterging. Sie musste sich jetzt beeilen.
Ihr Blick fiel auf den Felsbrocken, mit dem sie ihren Entführer umgebracht hatte. Vor vielen Monden hatte sie ihn dort abgelegt; die eigenartige Farbe, die im Gestein funkelte, hatte ihr Unbehagen eingeflößt, als sie in den Wehen lag und ihrem neuen Sohn das Leben geschenkt hatte. Auch andere Frauen hatten von demselben Unbehagen gesprochen: Ihre Blicke seien während der Wehen von dem Felsbrocken angezogen worden, und sie seien erleichtert gewesen, die Höhle wieder zu verlassen.
Nun war ihr klar, dass er eine böse Mahnung an das Geschehene war. Im Wesen dieses Steins lag eine Feindseligkeit, die diesen heiligen Ort zu durchdringen schien, und sie, Anabarru, war dafür verantwortlich, dass er dort lag. Dass sie ihn aus dem Land des Lizard-Volkes gestohlen hatte, brachte Unglück über sie alle, denn wie sonst war die Ankunft des fremden Kanus zu erklären? Sie musste ihn zurückbringen.
Anabarru erhob sich, und nachdem sie tief eingeatmet hatte, um sich Mut zu machen, packte sie den Stein und steckte ihn in ihren Beutel. Sie griff nach dem Grabstock und dem kurzen Speer, verließ die Höhle und trottete den Abhang hinunter Richtung Westen.
Noch während die Sonne unterging und die Hitze nachließ, kam Anabarru an die Grenze des Landes, das in der Obhut des Ngadyandyi-Stammes lag. Sie kletterte auf einen hohen Baum, setzte sich rittlings auf einen dicken Ast und nahm den Stein aus ihrem Beutel. Ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, schleuderte sie ihn so weit wie möglich ins Land des Lizard-Volkes. Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt.
»Wir werden noch immer beobachtet«, murmelte Sydney, als er mit Jonathan zusammen die Kisten mit den Musterexemplaren und die Bücher mit Zeichnungen aus dem Beiboot holte, um sie wieder in Sydneys leer geräumte Kabine zu bringen.
»Ich weiß. Sie sind seit zwei Tagen da.« Er reckte den Rücken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war übermäßig heiß, selbst im Wasser des sandigen Flusses war es warm wie in der Badewanne. »Aber ich glaube, sie sind eher neugierig als wild. Wahrscheinlich haben sie noch nie einen weißen Mann gesehen und wissen nichts mit uns anzufangen.«
»Sie tragen Speere bei sich«, murrte Sydney. »Ich wäre nicht im Geringsten überrascht, wenn sie uns alle im Schlaf umbringen.«
Jonathan versetzte seinem Freund einen Klaps auf den Rücken und lachte über den düsteren Ausdruck in dessen empfindsamem Gesicht. »Dein Optimismus kennt keine Grenzen, Syd. Kopf hoch, Mann, um Himmels willen, sonst zwingst du mich am Ende, andauernd einen Blick hinter mich zu werfen!« Er schaute zu den Bäumen hinüber und schmunzelte. »Wenn sie uns töten wollten, hätten sie es längst getan, aber anscheinend sorgen wir nur für ihre Unterhaltung und sollen nicht ihre Kochtöpfe füllen.«
Sie arbeiteten weiter, doch sah Jonathan an der Miene seines Freundes, dass diesem mulmig zumute war. Nachdem die letzte Kiste sicher in der Kabine verstaut war, ließ Jonathan den Freund bei seiner Arbeit allein und kehrte an das sandige Flussufer
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