Träume jenseits des Meeres: Roman
Anblick.
Einige Schiffe der Ersten Flotte waren im Januar in Woolwich und Gravesend beladen worden. Die Schiffe aus Plymouth waren Ende März hier eingetroffen. Jetzt lagen sie im Hafen von Portsmouth vor Anker, bereit zum Auslaufen.
Susan stand mit ihrer Familie an Deck der Golden Grove und beobachtete das geschäftige Treiben am Anleger. Sie hatte Gilberts Fernrohr ausgeliehen und versuchte, Billy unter den verwahrlosten, ungekämmten Männern auszumachen, die man gezwungen hatte, zu Fuß von Plymouth zu laufen. Ihr Abscheu vor der brutalen Strafe machte sie so wütend, dass sie am liebsten auf jemanden eingedroschen hätte. Es war ein trauriger Anblick, und es war unmöglich, einen Mann vom anderen zu unterscheiden – sie sahen alle halb verhungert aus.
Dann sah sie die zweite Gruppe von fünf Männern in Ketten. Einer von ihnen hatte etwas an sich, das ihr bekannt vorkam. Sie stellte das Fernrohr scharf und schluchzte auf, als sie sah, wie man Billy die Ketten abnahm. Da er nicht in Rufweite war, konnte sie nur voll Kummer zusehen, wie man ihn an Bord der Charlotte führte. Wie ängstlich muss er sein, dachte sie und schwor sich im Stillen, etwas zu unternehmen, um ihm die Reise zu erleichtern, damit er bei Kräften bliebe.
Sie schloss die Augen und versuchte, innerlich einigermaßen zur Ruhe zu kommen, denn sie stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. Der Abschied von ihrer Mutter war das Schwerste an dieser Verbannung gewesen, denn Maud war alt geworden und nicht bei bester Gesundheit, was man Billy verschwiegen hatte. Sie konnte nicht verstehen, weshalb ihre Tochter fortging. Susan hatte sie an sich gedrückt, ihr einen Kuss gegeben und aus der Kate fliehen müssen, bevor sie endgültig die Beherrschung verlor. Die Witwe ihres ältesten Bruders hatte versprochen, sich um sie zu kümmern, und der neue Pastor würde ihr alle Briefe vorlesen und ihre Antworten niederschreiben. Doch Susan wusste, dass sie ihrer Mutter in ihren letzten Lebensjahren hätte Trost spenden müssen; das war eine weitere Bürde, die zu ihrer schrecklichen Schuld hinzukam.
Jonathan war nicht wie erwartet nach Cornwall zurückgekehrt, und dafür war sie dankbar gewesen. Ihn für das, was er getan hatte, zu hassen, war die eine Seite, doch ihm gegenüberzutreten und diesen Hass auf die Probe zu stellen, stand auf einem ganz anderen Blatt – denn in ihrem tiefsten Innern flackerte noch immer eine winzige Flamme der Liebe, die nicht auszulöschen war.
Sie bemühte sich nach Kräften, nach außen hin Ruhe zu bewahren. Es hätte wenig Sinn, ihren Gefühlen Luft zu machen, denn anscheinend freute sich der Rest ihrer Familie tatsächlich auf die Reise. Sie würde nur noch mehr isoliert, wenn sie die gute Laune der anderen mit sauertöpfischer Miene dämpfte. Das gehörte zu der Strafe, die sie für ihre Sünden zu bezahlen hatte.
George war vor Aufregung außer sich, als Kanonen abgefeuert wurden, eine Militärkapelle am Kai aufmarschierte und eine mitreißende Melodie spielte. Mit wilden Gesten machte er darauf aufmerksam, dass zum ersten Mal seit ihrer Ankunft Fensterläden und Türen geöffnet wurden und die Bürger von Portsmouth an den Kai strömten, um mit anzusehen, wie diese außergewöhnliche Flotte auslief.
Ernest hatte die hübsche Tochter eines Offiziers erspäht und sich auf Entdeckungsreise begeben; Florence stand neben ihrem Vater, hatte sich bei ihm untergehakt und die Wange an seine Schulter gelegt. Sie hatte Ezra schon immer bevorzugt; jetzt wich sie ihm kaum noch von der Seite, was Susan unwillkürlich ärgerte.
Sie wandte sich von ihnen ab und sah zu, wie die großen Segel gehisst und vom Wind aufgebläht wurden. Vor dem blauen Himmel sahen sie wunderschön aus, und der Anblick so vieler Schiffe war atemberaubend. Sie hatte die Fischer immer beneidet und an Jonathans Lippen gehangen, wenn er ihr von seinen Abenteuern hinter dem Horizont berichtet hatte; doch nun verließ sie ihre Heimat, und in Gedanken war sie beim Haus neben der Kirche und in dem kleinen Fischerdorf, das sich unten an die Klippen drückte. Sie würde Cornwall nie wiedersehen, würde niemals mehr mit ihrer Mutter reden oder das Salz schmecken und die frisch gefangenen Heringe riechen. Stockend atmete sie ein, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie konnte es nicht ertragen.
»Ich weiß, wie schwer es für dich sein muss«, sagte Ann, die sich an ihre Seite stellte. Sie verschränkte ihre mit Susans Fingern. »Aber du bist nicht
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