Traeume Suess, Mein Maedchen
nicht, hatte sie erwidert, aber Emma hatte wohl gespürt, dass es die Wahrheit war.
Was wusste Emma andererseits schon von der Wahrheit, fragte Lily sich. Wer genau war Emma Frost, und wie viele Lügen hatte sie erzählt?
Sie dachte an das Gespräch mit Jeff und seine unglaubliche Geschichte, wie er Emma beim Ladendiebstahl erwischt hatte. Das konnte nicht stimmen. Aber warum eigentlich nicht? Im Grunde kannte Lily Emma nicht besonders gut. Sie wusste praktisch nichts über ihr Leben und hatte noch nicht genug Zeit mit ihr verbracht, um zu begreifen, wie sie tickte. Im Gegenteil, je mehr sie von Emma erfuhr, desto rätselhafter wurde die Frau.
Lily stand auf, ging ans Fenster, starrte auf die dunkle Straße und stellte sich dieselbe Frage, die sie beschäftigt hatte, seit Jeff seine verblüffende Enthüllung gemacht hatte: Wenn Emma Frost nicht die war, die sie vorgab zu sein, wer war sie dann? Wozu all die Lügen und Listen?
Lily hätte beinahe gelacht. Wer war sie, andere zu verurteilen? Wer war sie, sich zu beklagen, dass andere nicht die Wahrheit sagten? Und wenn Jeff Emmas Lügengespinste so schnell durchschaut hatte, wie lange würde es dauern, bis ihre eigenen Antworten ihn ebenfalls nicht mehr zufrieden stellten?
Sie ging zum Kleiderschrank, öffnete ihn und starrte auf die wenigen Sachen. Vielleicht war es Zeit zu gehen. Dayton sollte sowieso nie mehr sein als ein vorübergehender Zwischenstopp, bis sie ein bisschen Geld zusammengespart und herausgefunden hatte, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen wollte. Sie hatte immer gehofft, dass sie eines Tages heimkehren könnte. Aber noch nicht. Noch war es viel zu früh, um daran zu denken.
Außerdem gefiel es ihr hier. Sie hatte einen Kreis von Freundinnen, ein Job und sogar ihren Lesezirkel. Außerdem blühte Michael auf. Warum also fortgehen? Weil sie einen
Mann getroffen hatte, den sie mochte, und spürte, dass vielleicht mehr daraus werden könnte? Oder weil es zu spät war, dachte sie traurig, schloss die Kleiderschranktür und ließ sich auf das Fußende ihres Betts sinken.
Man kann eine Beziehung nicht auf Lügen aufbauen, dachte sie. Genauso wenig, wie man ewig vor der Vergangenheit weglaufen konnte. Früher oder später musste sie beginnen, die Wahrheit zu sagen. Über ihre Ehe. Über Kennys Tod. Und über ihre Rolle in allem, was geschehen war.
Die Wahrheit wird dich befreien. Sagte man das nicht?
Und sagte man nicht auch, dass Freiheit nur bedeutete, dass man nichts mehr zu verlieren hatte?
Lily schloss die Augen. Sie hatte eine Menge zu verlieren, dachte sie, kroch wieder unter ihre Decke, starrte in die Dunkelheit und fragte sich, was Jan denken würde, wenn sie herausfand, dass ihre vertrauenswürdige Angestellte eine Lügnerin war, und was ihre Freundinnen sagen würden, wenn sie vom Ausmaß ihrer Lügen erfuhren. Was würde Jeff Dawson sagen, fragte sie sich, während am Rand ihres Bewusstseins der Schlaf lauerte, falls er entdecken sollte, dass Emma Frost nicht die einzige Schwindlerin in der Mad River Road war?
Jamie wartete, bis sie sicher war, dass Brad schlief, bevor sie die Augen aufschlug. Seit Stunden lag sie neben ihm und lauschte seinem Atem, wartete, dass er regelmäßiger und ruhiger wurde, bis sie jenseits des Hauchs eines Zweifels davon überzeugt war, dass er in der Tat schlief und sie nicht wieder auf die Probe stellte. Das hatte er heute Nacht schon einmal getan, und sie hatte die Prüfung nur mit größter Not bestanden.
Ohne den Kopf zu drehen, blickte Jamie zu den roten Ziffern des Digitalweckers auf dem Nachttisch und dachte schaudernd daran, wie gefährlich knapp sie einer Entdeckung entgangen war. Es war kurz vor eins gewesen, zwei
Stunden nachdem er ihr einen Gutenachtkuss gegeben und sie aufgefordert hatte, sich auszuziehen und auf die Seite zu drehen, damit er sie im Schlaf in den Armen halten konnte. Er hatte sie gnädigerweise nicht bedrängt, mit ihm zu schlafen, vielleicht weil er spürte, dass sie zu zerbrechlich war. Oder er war einfach müde, nachdem er den ganzen Tag gefahren war. Warum auch immer, er schien jedenfalls zufrieden damit, einfach neben ihr zu liegen, und war, einen schweren Arm über ihren nackten Körper gelegt, um sie festzuhalten, erstaunlich schnell eingeschlafen. Jamie hatte eine Ewigkeit still gelegen, bis sie sich irgendwie aus seiner Umarmung gewunden hatte, ohne dass er sich gerührt hatte. Erst als sie zum Fußende des Bettes gerobbt und nach ihrer Jeans gegriffen
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