Traeume Suess, Mein Maedchen
hatte, hatte er plötzlich die Stimme erhoben wie eine Hand, die im Dunkeln ihre Schulter packte und erstarren ließ.
»Was hast du denn vor?«, wollte er wissen, und die Frage hatte wie ein zusammengerolltes Reptil nach ihrer Seele geschnappt.
Trotz ihres wie irre rasenden und dann wieder stockenden Herzschlags hatte Jamie mit bemüht monotoner Stimme geantwortet. »Ich muss mal aufs Klo.«
»Seit wann zieht man sich seine Jeans an, wenn man auf die Toilette muss?«
»Ich hab sie nicht angezogen.«
»Was hast du denn dann gemacht?«
»Ich hab Kopfschmerzen. Ich dachte, ich hätte noch Kopfschmerztabletten in der Tasche.«
»Und hast du sie gefunden?« Er schaltete die Lampe neben dem Bett an und beobachtete sie genau.
Jamie kramte durch ihre Hosentaschen. »Nein«, sagte sie ehrlich niedergeschlagen. »Vielleicht in meiner Handtasche.«
»Guck besser nach.« Er zeigte auf ihre Handtasche auf der Kommode.
Als Jamie zur Kommode schlurfte, spürte sie Brads Blicke auf ihrem nackten Körper. Sie nahm ihre Handtasche und wühlte auf der Suche nach irgendetwas, was ihrer Geschichte Glaubwürdigkeit verleihen würde, hektisch darin herum. »Hier sind sie ja«, sagte sie, und eine große Welle der Erleichterung schwappte durch ihren ganzen Körper, als sie schweißgebadet ein kleines Fläschchen mit Schmerztabletten präsentierte.
»Du solltest besser eine nehmen«, sagte er.
Jamie nickte, ging ins Bad und schluckte zwei Tabletten mit einem Glas Wasser.
»Dann kannst du auch gleich pinkeln«, riet er ihr. »Ich hab keine Lust, heute Nacht noch mal aufzuwachen. Morgen ist schließlich ein großer Tag«, fügte er eisig hinzu.
Als Jamie ins Schlafzimmer zurückkehrte, waren ihre Handtasche und ihre Kleidung verschwunden. Sie wollte danach fragen, besann sich jedoch eines Besseren. Brad hatte sie offensichtlich außer Sichtweite deponiert, um ihr deutlich zu machen, dass er kein Risiko mehr eingehen würde. Sie kam zurück ins Bett, wo sie ihre frühere Position wieder einnahm.
»Hey Jamie«, flüsterte er und küsste ihren Hals. »Ich hab gehört, Sex wäre wirklich gut gegen Kopfschmerzen.«
»Bitte, Brad …«
»Entspann dich, Jamie«, sagte er und legte seinen Arm über sie wie einen massiven Anker, der sie beschwerte und sicherte. »Ich wollte dich bloß ärgern.«
Jamie schloss die Augen und schluckte ihre Tränen herunter.
»Träum süß, Jamie-Girl.«
Träum süß, Jamie-Girl, wiederholte sie jetzt stumm für sich und fragte sich, ob sie einen zweiten Fluchtversuch wagen sollte. Es war beinahe vier Uhr, und auch wenn sie nur eine halbe Autostunde von Dayton entfernt sein mochten, waren sie trotzdem am Ende der Welt. Selbst wenn es
ihr gelingen sollte, aus dem Zimmer und dem Motel zu entkommen, wohin wollte sie gehen? Um diese Zeit war der Empfang bestimmt nicht besetzt, es gab kein Telefon, das sie ohne passendes Kleingeld oder eine Telefonkarte benutzen konnte, keine Türen, an die sie klopfen konnte, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Sie hatte kein Geld, keine Schuhe, keine Kleider, Herrgott noch mal. Konnte sie wirklich barfuß und nackt in die Nacht hinauslaufen und hoffen, bis zum Highway zu kommen und gerettet zu werden?
Wenn Brad aufwachte und entdeckte, dass sie nicht da war, würde er sie garantiert suchen. Und wenn er sie fand? Was dann? Glaub mir - niemand wird das gute alte Gracie-Girl je finden, hörte sie ihn sagen.
Aber welche andere Wahl hatte sie? Er hatte schon mindestens eine, wahrscheinlich zwei Frauen ermordet und war auf dem Weg, eine dritte zu töten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er beschloss, dass sie ebenso entbehrlich war wie die anderen. Sie musste zumindest versuchen zu fliehen. Und dies war vielleicht ihre einzige Chance.
Also entwand sich Jamie, während sie tat, als würde sie sich im Schlaf bewegen, erneut langsam seiner Umarmung. Brad rührte sich, wachte jedoch nicht auf. Sein Arm lag immer noch über ihrer Hüfte. Jamie drehte sich vorsichtig auf den Rücken, und Brad bewegte sich mit ihr, sodass sein Arm auf ihren Bauch rutschte. Er seufzte wie mitten in einem schönen Traum. Träumte er von seiner früheren Frau? Dachte er daran, was er ihr antun wollte?
Jamie versuchte, sich Brads Ehefrau vorzustellen, sah jedoch nur eine in der Ecke kauernde Frau, die mit Armen voller blauer Flecken ihr Gesicht und ihren Kopf vor den Schlägen zu schützen suchte, die unweigerlich folgen würden. Irgendwie hatte sie den Mut aufgebracht, ihrem Peiniger zu
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