Traeume von Fluessen und Meeren
weitergegangen. SeineMutter ist schuld. Jede Wendung, die seine Reise nimmt, steigert nur die Wut auf seine Mutter.
»Ich wollte alles löschen«, murmelt das Mädchen. »Aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht alles zerstören, was wir geschrieben haben.«
Sie ist ihm in sein Zimmer gefolgt. Sie spricht mit starkem Akzent. Nicht wie Sharmistha. Sharmistha klang fast amerikanisch. John war überrascht, dass die Empfangsdame nicht protestierte. Er dachte, in indischen Hotels gebe es eine Regel, die besagte, dass man keine Mädchen mit auf sein Zimmer nehmen durfte, besonders wenn es ein Einzelzimmer war. Das hier ist eine Bruchbude, eine echte Klitsche; es riecht muffig. Er muss schlafen. Seine Socken und seine Unterwäsche liegen auf dem Fußboden, schmutzige Klamotten auf dem Tisch. Komisch, diese Mischung aus John und Indien: das reinste Kuddelmuddel. Ein Ganesh neben seinem T-Shirt vom Imperial College. Das Mädchen sitzt auf dem einzigen Stuhl, neben dem Fernseher, in weiten Hosen und weitem Oberteil, das ausgeprägte Kinn leicht vorgereckt, die schlanken Hände zwischen den Knien gefaltet. Er kann sehen, dass sie schlanke Beine hat. Das Licht kommt durch ein schmieriges Fenster in der Ecke, wo der Raum schmaler ist, weil dort das Bad abgetrennt wurde. Es ist das reflektierte Licht des frühen Morgens. Die Klimaanlage rattert. Ich muss duschen und schlafen, sagt sich John. Ich bin krank. Er weiß, dass das nicht stimmt.
Er sitzt mit dem Laptop, den das Mädchen ihm gegeben hat, auf dem Bett. Der Monitor leuchtet.
Am 30. März 2005 um 13.56 schrieb Jasmeet Singh
Lieber Mr. Albert …
John möchte am liebsten in Ohnmacht fallen. »Das ist der Computer Ihres Vaters, Mr. John«, hatte das Mädchen gesagt. »DasPasswort lautet JohnJames.« Aber er kann jetzt nicht schlafen. Er kann sich noch nicht mal hinlegen. Sein eigener Name als Passwort! Oder der Name seines Onkels. Das E-Mail-Postfach quillt über von Nachrichten von Jasmeet Singh.
Am 20. März 2005 um 14.07 schrieb Jasmeet Singh
Das ist sehr nett von Ihnen, so schnell zu antworten,
Mr. Albert!
»Und Sie sind Jasmeet?«, fragt John dümmlich. Er überfliegt den Posteingangsordner. Alle Nachrichten sind vom selben Absender.
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»Ja, das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, sagt sie. »Das bin ich.«
»Tut mir leid. Ich hatte eine lange Nacht.«
Verstört und neugierig schaut sich das Mädchen in dem Hotelzimmer um und wischt sich immer wieder mit dem Arm die Tränen vom Gesicht. Ihre Armreifen klirren. Eins ihrer Knie zuckt rhythmisch. In einem so kleinen Zimmer ist ihre Anwesenheit sehr deutlich zu spüren, sie hat etwas Animalisches und Mädchenhaftes. Sie ist ziemlich groß. Sie hat einen langen Hals. John fragt sich, was er machen soll. Soll er diese ganzen E-Mails lesen? Vor ihren Augen? Es sind so viele. Mehr als ein ganzes Buch. Er möchte wissen, was drinsteht, aber er möchte sie nicht lesen. Er wünschte, er hätte es die ganze Zeit gewusst. Ich muss Mutter zur Rede stellen, beschließt er. Er wünschte, alles wäre Vergangenheit, wie eine Prüfung, für die man gelernt, die man bestanden und abgehakt hat. Jetzt bemerkt er einen Geruch; das Mädchen trägt Parfum, etwas Ausgefallenes mit einer Moschusnote.
»Haben Sie mir diesen Brief geschickt?«
»Wie bitte, Mr. John?«
»Ich habe einen Brief von meinem Vater bekommen. Haben Sie ihn abgeschickt? Er kam in London an, nachdem er gestorben war.«
»Ach so.« Sie lächelt und schnieft. »Den Brief hat er im Neemrana geschrieben.«
»Wo?«
»Kennen Sie das nicht?« Sie wirkt ehrlich überrascht. »Dem Neemrana! Das ist ein altes Fort. Ein Hotel. Sehr berühmt. An der Straße nach Jaipur. Er landete in meiner Tasche.«
»Er war nicht fertig.«
»Ich habe den Brief in meiner Tasche gefunden. Ich weiß nicht, wie er dahin gekommen ist. Albert hat viel an Sie gedacht. Er hat den Brief im Neemrana geschrieben.«
Das Mädchen schaut ihn an, während sie spricht. »Alles ist schiefgegangen, Mr. John. Ich habe den Brief abgeschickt, als er gestorben war. Die Adresse stand im Computer.«
John ist verwirrt. Nach einem elenden, betrunkenen Abend kommt er ins Hotel
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