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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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keine Antwort heraus. Mit Mühe bringt er heraus: »Erzählen Sie mir von sich und meinem Vater.« Er schiebt sich die Gabel in den Mund. Er schmeckt nichts von dem Essen. Mum wird ihn ernst nehmen müssen, wenn er damit zu ihr kommt, wenn er sagt, wer ist Jasmeet Singh? Was war sie für Vater? Dann wird sie ihm antworten müssen. Dann wird sie mit ihm nach England zurückgehen.
    Jasmeet hält ihren Kopf über den Teller und füllt sich den Mund. Er staunt, wie rot ihre Zunge ist. Die Farbe ist sehr intensiv. Wie das Innere einer Wunde. »Lesen Sie die Mails, Mr. John«, sagt sie. »Es ist zu kompliziert.«
    »Ich werde mich nicht aufregen«, wendet er ein.
    »Bitte. Sie werden es verstehen, wenn Sie die Mails lesen.«
    John will es nicht verstehen. Er will es wissen .
    »Lesen Sie die Mails«, wiederholt sie und zieht eine Serviette unter der Zuckerdose hervor. »Ich habe ein bisschen Angst davor, alleine nach London zu reisen.«
    »Was ist denn mit dem Forschungsprojekt?«, fragt John. »Dieses Schauspiel-Experiment?« Eigentlich interessiert ihn das gar nicht. Vaters sogenannte Forschungen sind ihm völlig egal. Sie waren bloße Zeitverschwendung. Der Mann war ausgebrannt.
    Jasmeet wischt sich den Mund ab. Der Wind bläst ihr ein paar lose Haarsträhnen über die Lippen. »Wir haben uns in der Schauspielschule von Delhi getroffen. Sudeep studiert dort. Abends. Wir sollten Sachen darstellen. Wir sollten Katastrophen erfinden, sagte er, und dann«, sie zögert, »dann tanzen. Um sie aufzulösen, hat er gesagt.« Sie schüttelt den Kopf. »Er wollte, dass alle das lernen, er nannte es eine neue Art des Verhaltens. Wir waren fünf Mädchen. Fünf Jungen. Sudeep konnte es erklären. Man muss erkennen, wenn etwas Schlechtes kommt, und es dann tanzen, es wegtanzen.«
    »Ich verstehe kein Wort«, sagt John nüchtern.
    »Oh, ich eigentlich auch nicht!« Jasmeet lächelt mit vollem Mund. »Jeder musste eine Geschichte mitbringen.« Sie schluckt, runzelt die Stirn. »Mal überlegen.« Sie fährt sich mit dünnen Fingern über die Lippen. »Okay. Dies hat Sudeep erzählt: Zwei Muslime wohnen im Erdgeschoss eines Wohnhauses – sie sind seit vielen Jahren verheiratet, haben aber keine Kinder bekommen, und oben wohnt ein muslimisches Mädchen, das mit einem Hindu aus einer niederen Kaste verheiratet ist, der viele Verwandte hat, die die ganze Zeit viel Krach machen, ständig feiern, ständig spätabends Feste feiern, und sie haben auch ein Baby, das viel Krach macht, und die beiden Familien beschimpfen sich gegenseitig, auch weil es früher ein Haus war, in dem nur Muslime wohnten, und die muslimische Frau im Erdgeschoss findet, das Mädchen oben hätte keinen Hindu heiraten sollen, und weil sie selber keine Kinder hat, ärgert sie sich über das lärmende Kind, sie putzt andauernd, und sie hasst den Krach, sie hat schlimme Kopfschmerzen, und deshalb planen die beiden Muslime, das Hindu-Baby und die Mutter zu töten, wenn der Vater weg ist. Das ist eine wahre Geschichte, die im Haus von Sudeep passiert ist. Ich habe das junge muslimische Mädchen gespielt, das den Hindu geheiratet hat.«
    John starrt sie an. Was sollte das alles?
    »Wir mussten alle Gefühle ganz stark empfinden, und dann den Moment erkennen, an dem der Tanz kommt. Wir mussten einen … Auslöser finden, so hat Albert es genannt. Bevor die Katatstrophe eintritt. Es gibt einen Tanz, bei dem man das Gegenteil von dem wird, was man in der Geschichte war. Es ist ein Ritual. Man spielt sein Gegenteil. Ihr Vater hat viel experimentiert. Er sagte, wir müssen es schön machen, sonst funktioniert es nicht. Es musste schön sein.«
    »Dad war verrückt.«
    »Oder zum Beispiel« – Jasmeet wird immer lebhafter, sieerinnert sich gern daran – »in einer Familie kämpft der Sohn gegen den Vater, weil er Dichter werden will, wissen Sie, aber der Vater will, dass er Wissenschaftler wird, Professor, und sie streiten sich, und das Mädchen des Sohnes, seine Verlobte, die sehr schön ist, die aber auch ein Snob ist und Angst davor hat, arm zu sein, sie hält zu dem Vater, dem Vater ihres Freundes – vielleicht mag sie den Vater sogar, und er sie, verstehen Sie, sie ist sehr sexy und er ist ein mächtiger Mann –, und der Sohn fängt an zu trinken, er ist wütend, sehr wütend, und alle streiten sich, und er will sich umbringen, um sie zu bestrafen. Ich war die Freundin und Sudeep der Sohn und Ihr Vater der Vater.«
    »Das ist die Geschichte meines Onkels.«
    Jasmeet schaut

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