Traeume von Fluessen und Meeren
gesprochen. Er ist Arzt, nicht wahr?«
»Ich bin von zu Hause weggegangen«, sagt das Mädchen. »Ich gehe nicht wieder zurück.«
»Sie sind von zu Hause weggegangen? Ich verstehe nicht ganz. Wann denn?«
»Gerade.«
John brummt der Kopf. Es müssen drei, vier Gin gewesen sein, und vier oder fünf Wodka. Er sitzt am Tisch und betrachtet die starke junge Frau in ihrem pyjamaähnlichen Anzug und dem zitronengelben Kopftuch, das im heißen Wind flattert. Da er nie zu Hause gewohnt hatte, hatte John auch keine Gelegenheit gehabt, wegzugehen. »Komm diesen Sommer lieber nichtzu uns raus«, schrieb seine Mutter aus Chikago, »deinem Vater geht es nicht gut.« John würde am liebsten gegen den Sarg seines Vaters hämmern, vielleicht mit einem Stein, einem Steinelefanten, und gleichzeitig möchte er sicherstellen, dass er geschlossen bleibt. Er will diese E-Mails nicht lesen. Er braucht einen Streit.
Jasmeet schaut ihm direkt in die Augen. »Ich werde nach London gehen, Mr. John, ich habe mich entschieden, Indien zu verlassen. Ich habe ein bisschen Geld. Ich habe ein Visum.«
In seinem Zimmer hat sie geweint. Jetzt, im gleißenden Licht der Dachterrasse, ist sie hart und entschlossen. »Ich werde meinen Vater nicht länger ertragen«, sagt sie. Ihre Stimme klingt beschwingt, anziehend. Anfangs dachte er, sie spräche nicht sehr gut. Jetzt wird ihm klar, dass es ihre Art zu sprechen ist.
»Sie haben keine Ahnung, wie viele Stunden und Jahre er damit verbracht hat, mir zu erklären, wie ein Sikh-Mädchen sich zu benehmen hat: Guru Grant Sahib hier und Papa Ji dort. Mein Bruder kann machen, was er will. Er studiert Jura. Er ist auf eine bessere Schule gegangen. Er spricht besser Englisch. Ich soll Sekretärin werden, und Ehefrau. Sie wollen, dass ich einen Jat-Doktor heirate. Aber als ich mich am Bein verletzt habe, hat seine Familie kalte Füße gekriegt.«
Sie hält inne. »Das ist zu komisch, nicht? Ich verletze mich am Bein, und sie kriegen kalte Füße.« Sie lacht laut. »Ihr Vater, Mr. John, hat gesagt, ich wäre ein verrücktes Mädchen. Jasmeet, du bist ein verrücktes Mädchen!«
John kommt nicht mehr mit. Es scheint unmöglich, dass diese junge Frau etwas mit seinem Vater zu tun gehabt hat, einem Mann, der ständig vergaß, seinen Hosenschlitz zuzumachen, der Schuhe ohne Socken trug oder Sandalen mit Socken. Nicht gerade ein Frauenheld. Fahrig, ichbezogen. Ein Heiliger ohne Religion. Und am Ende ein Kranker. Ein älterer Mann mit Prostatakrebs, erkrankt an seinem intimsten Körperteil. John schaut das Mädchen an. Dennoch ist es bei Jasmeet eher imBereich des Möglichen als bei Ananya. Ihr Auftreten verrät ihm, dass sie etwas weiß. Ihre Augen, und ein gewisser Zug um den Mund. Und ihr Körper.
»Wobei haben Sie sich denn am Bein verletzt?«, fragt er. Er will alles anpacken, nur nicht den Kern des Problems. Und wenn doch, dann wird er Mutter damit konfrontieren.
»Ich bin aus dem Bus ausgestiegen, wo keine Haltestelle war, weil ich es eilig hatte, und ein Motorrad, wumm, fährt in mich hinein.«
Sie schaut über das Geländer in Richtung India Gate. »Ich hatte es eilig, weil ich mit Albert verabredet war.«
Ehe John darauf antworten kann, kommt der Kellner wieder. Die Krähen erheben sich, um das Essen zu begrüßen. Der Mann versucht, Servietten unter die Teekanne zu schieben, aber der Wind erfasst sie. Zwei Rechtecke aus Papier wehen über den Asphaltboden.
»Sehr starker Wind, Sir. Vielleicht kommt ein Staubsturm, Sir. Man muss vorsichtig sein, wenn der Wind aus dieser Richtung kommt, Sir.«
Er stellt ihre Tabletts ab: Rühreier für John, für Jasmeet eine Art Bratkartoffeln mit Joghurt und sauren Gurken. Sie isst schnell, mit den Fingern, und neigt dabei den Kopf fast bis auf den Teller hinunter. Sie hat Hunger. John sieht ihren kräftigen Kiefer, die elastischen Lippen. Er schenkt Tee ein. Er findet es wunderbar verrückt, an einem heißen Morgen heißen Tee zu trinken. Er wird davon einen klaren Kopf bekommen.
»Sie sind früh aufgestanden?«, sagt er. »Es ist noch nicht mal neun.« Er weiß nicht genau, ob sie es ernst meint, dass sie heute von zu Hause weggegangen ist.
Sie spricht mit vollem Mund. »Meinen Sie, Sie können mich mit nach England nehmen, Mr. John? Können wir einfach zum Flughafen fahren und ein Flugzeug nach London nehmen? Ich habe ein Visum. Albert hat mir dabei geholfen. Ich habe auchGeld. Ich bin vierundzwanzig. Mit Büroerfahrung. Ich kann arbeiten.«
John bringt
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