Traeume von Fluessen und Meeren
»Verdammt!«, rief sie. Sie boxte ihn hart. »Deinetwegen sage ich Sachen, die ich vorher nicht mal gedacht habe. Verdammt noch mal. Geh endlich! Verschwinde!«
Er setzte sich auf und packte ihre Handgelenke. Sie brüllte jetzt. »Albert ist hier, an meiner Seite! Immer! Hier ist kein Platz für dich! Kein Platz!« Sie reckte ihm ihr Gesicht entgegen, die Augen und der Mund waren angespannt. Er war ergriffen von der Intensität des Moments, erregt von seiner eigenen Ruhe.
Und dann klingelte das Telefon.
Sie wurden beide still. Helens Körper entspannte sich. Er spürte, wie die Spannung wich. Sie freute sich über das Klingeln des Telefons. Sie stand auf und lief eilig um das Bett herum zur Tür. Er sah zu, wie sie sich durch das Dämmerlicht bewegte, groß und bleich. Sogar nackt besaß sie eine Art reifer Reserviertheit.
»Hallo?«, sagte sie, nachdem sie abgenommen hatte. Sie war im Wohnzimmer, er konnte sie nicht mehr sehen. Paul griff nach seiner Hose und zündete sich, gedankenlos und ohne um Erlaubnis zu bitten, eine Zigarette an. Er fühlte sich ziemlich gut.Wer hätte das gedacht, als er nach Indien gekommen war, als er das Taxi zum Krematorium genommen, sein Buch geplant hatte? Er war drauf und dran, sein Leben zu ändern.
»Nein«, hörte er sie sagen. »Tut mir leid. O Gott. Nein, habe ich nicht. Ich wünschte, ich könnte helfen.« Immer wieder sagte sie diese Floskeln. Sie hatte keine Ahnung. Nein, es war kein günstiger Zeitpunkt für einen Besuch. Nein. Sie hatte heute Nachtdienst. Sie musste bald aufbrechen, um in die Klinik zu fahren.
»Kulwant«, erklärte sie, als sie zurückkam. »Jasmeet ist von zu Hause weggelaufen. Seine Tochter. Anscheinend hat sie eine Menge Geld mitgenommen.«
»Die Tänzerin?«
»Extänzerin.«
Sie schaute ihn an. Paul sah, dass sie wieder sie selbst war.
»Entschuldige bitte meine Hysterie«, sagte Helen.
»Schon gut. Ich räche mich, indem ich in deinem Bett rauche.« Paul lächelte. Er aschte in die Klappe der Zigarettenschachtel. »Das Mädchen ist doch alt genug, von zu Hause wegzugehen, wenn es möchte.«
»Er ist ein überbesorgter Vater«, sagte Helen. »Sie sind Sikhs.«
Sie spähte zwischen den Vorhängen hindurch. Der Staubsturm wütete. Die Silhouetten der Gebäude gegenüber waren nur ab und zu erkennbar. »Er wollte, dass ich ihm die Telefonnummern von ein paar anderen Leuten gebe, mit denen Albert sie in Kontakt gebracht hat. Bei diesem Theaterprojekt, was immer das auch war. Er hat Angst, dass sie mit einem der Jungen durchgebrannt ist. Aber ich habe keine Nummern.«
»Sie werden in seinem Telefon gespeichert sein«, sagte Paul.
»Das habe ich nicht.«
»Weder Laptop noch Telefon? Er muss sie irgendwo gelassen haben.«
»Das ist mir ganz egal. Soll sie doch mit dem Jungen durchbrennen. Sie ist ein kokettes, hohlköpfiges junges Ding, und sie wollen sie mit einem langweiligen, unterwürfigen Pharma-Vertreter verheiraten. Natürlich läuft sie da weg.«
Helen kam wieder zum Bett und setzte sich hin, verschränkte die Arme und lehnte sich an das Kopfteil. Nach einer Weile erklärte sie in nüchternem Tonfall: »Du hast übrigens einen Fehler gemacht bei deinem Buch, mit deiner Herangehensweise.«
»Ach ja?«
»Du hättest es hingekriegt, wenn du dort angefangen hättest, wo ich dir geraten habe. Beim Tod seines Bruders.«
Paul blickte auf.
»Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagte sie.
»Schieß los.«
Sie schaute ihn an. Was wollte sie erreichen? Sie runzelte die Stirn: »Kurz bevor wir nach Kenia gegangen sind, ganz am Anfang, nahm Albert mich mit zu seinen Eltern. Ich habe sie nur dieses eine Mal gesehen. Wir hatten geheiratet, ohne jemandem etwas zu sagen, auf dem Standesamt. Albert meinte, die einzige Möglichkeit, etwas zu tun, wogegen sein Vater etwas haben könnte, bestünde darin, den Mann vor vollendete Tatsachen zu stellen. Ich glaube, er hatte ziemliche Angst vor ihm. Jedenfalls wohnten sie in einem großen Haus in Headington Hill, einem wohlhabenden Vorort von Oxford, und sein Vater zeigte sich äußerst charmant und höflich; er regte sich über unsere Heirat oder unsere Pläne, nach Afrika zu gehen, überhaupt nicht auf. Im Grunde interessierte es ihn kaum. Er sprach die ganze Zeit nur von seinen Forschungen. Er war Spezialist für dominante und rezessive Vererbung, und ihm war sehr wichtig, dass ich genau verstand, worum es ging. Wir haben uns stundenlang unterhalten. Aber seine Frau, Alberts Mutter, war sehr
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