Traeume von Fluessen und Meeren
nervös und unterbrach uns dauernd. Sie war eine zierliche Frau, sehr hübsch für ihr Alter. Albert zauste ihr immer wieder das Haar – er warwesentlich größer als sie – und sagte: ›Keine Angst, Blümchen, Helen wird sich um mich kümmern. Kenia ist ein gutes Land.‹ Sie war älter als sein Vater, glaube ich, um etliche Jahre. Er nannte sie Blümchen, und sie nannte ihn Hummelchen. Ich fand das furchtbar. Albert und ich haben uns immer nur Albert und Helen genannt.«
Paul schloss die Augen. Er genoss ihren englischen Akzent. Er hatte etwas Hartes, Erregendes.
»Wie auch immer, am Nachmittag, als seine Eltern beide ausgegangen waren, zeigte Albert mir die alten Zimmer seines Bruders und seiner Schwester. Er musste erst die Schlüssel suchen, denn die Zimmer wurden verschlossen gehalten. Er hatte offenbar absichtlich gewartet, bis seine Eltern weg waren. Amelias Zimmer war hell und freundlich, auf der Kommode standen frische Blumen neben einem Porträtfoto von ihr. Sie war nicht besonders hübsch, ganz anders als ihre Mutter. Eher eine weibliche Ausgabe von Albert. Ihre Bücher waren da, eine alte Stereoanlage, ein Hockeyschläger. Solche Sachen. Sie war wesentlich älter als Albert, und er hatte ihr nicht sehr nahegestanden. Als sie starb, war er erst, wie alt …?«
»Vierzehn«, sagte Paul.
»Ja.« Helen machte eine kurze Pause. »Aber Johns Zimmer war ein Schock. Als wir die Tür öffneten, fiel Staub vom Rahmen, und Staub wehte vom Boden auf. Die Vorhänge waren zugezogen, es war dunkel und muffig, Kleidungsstücke hingen aus halb geöffneten Kommodenschubladen heraus, Bücher lagen aufgeschlagen auf dem Fußboden, und überall waren Spinnweben. Das Zimmer musste verschlossen gewesen sein, seit er gestorben war, sieben oder acht Jahre lang. Sogar das Bett war ungemacht und mit einer dicken Staubschicht bedeckt; ich habe es angefasst und hatte einen spinnenhaften Flaum an den Fingern. Dann zeigte Albert mir ein Foto, das auf dem Nachttisch stand; es war das einzige im Zimmer, was geputzt worden war. Eszeigte Bridget, das Mädchen, wegen dem John verrückt geworden war. Eine echte Schönheit. Albert sagte: ›So, jetzt habe ich es dir gezeigt‹, und schloss dann die Tür wieder ab.«
»Seltsam.«
So, jetzt habe ich es dir gezeigt . Kaum hatte Helen diese Worte ausgesprochen, hörte sie wieder Albert, der sie mit leiser Stimme sagte. Trotz der Hitze erschauderte sie.
»Trotzdem«, sagte Paul, »das alles spielt jetzt keine Rolle mehr, nachdem ich mich entschlossen habe, das Buch nicht zu schreiben. Oder?«
Helen betrachtete ihn, wie er auf dem Bett lag; seine dicke Brust. Was war dieser Mann für sie, wenn nicht Alberts Biograf?
»Wegen eben«, fing sie an.
»Ist schon gut.«
»Nein, ich will mich nicht entschuldigen.« Sie stockte. »Ich will es dir nur erklären. Es gibt nämlich etwas, das … das mich ehrlich gesagt wahnsinnig gemacht hat, und das diese Sache … die Sache mit dir so schwierig macht.«
»Spuck es aus«, sagte er lächelnd.
Mit unerwarteter Direktheit sagte Helen: »Albert und ich haben seit … vielleicht seit fünf Jahren nicht mehr miteinander geschlafen.«
»Aha.«
»Der Teil unseres Lebens war beendet. Vielmehr, er hat ihn beendet. In diesem Bett haben wir uns zum Beispiel nie geliebt. Kein einziges Mal.«
Sie saß mit verschränkten Armen da, ans Kopfkissen gelehnt, und schaukelte leicht hin und her.
Schließlich fragte Paul: »Ist das denn nicht normal in einer so langen Ehe? Ich kann mir vorstellen, dass der Moment kommt, wo man einfach das Interesse verliert. Am Sex, meine ich.«
Sie gab keine Antwort.
»Bei meiner zweiten Frau habe ich gleich nach den Flitterwochen aufgehört, mit ihr zu schlafen. Ich habe keinen Schimmer, wie wir es geschafft haben, ein Kind zu kriegen.«
Helen schüttelte den Kopf. »Es war uns wichtig.«
»Seine Krankheit?«, überlegte Paul. »Ich schätze, Prostatakrebs fördert nicht gerade das Liebesleben.«
Jetzt lachte sie bitter. »Kulwant sagt, das Erste, was die meisten Männer tun, wenn sie die Diagnose bekommen, ist, sich eine neue Frau zu besorgen. Um zu beweisen, dass sie noch am Leben sind. Für manche Männer wird dadurch sogar eine unterdrückte Libido freigesetzt.«
»Ist ja interessant. Vielleicht hat er das gemacht und sich schuldig gefühlt.«
»Albert hat sich nie schuldig gefühlt, weil er nie etwas gemacht hat. Wenn überhaupt, dann war es das, was ihn quälte. Nichts zu machen.« Sie geriet ins Stocken. »Am
Weitere Kostenlose Bücher