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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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Wir beide. Unsere Ehe war sein Meisterstück, sein Schicksal. Sie war
    Kunst, eine Geschichte, eine Trajektorie. Und ich war glücklich, dass er sich wieder mir zugewandt hatte.«
    Helen stöhnte. »Er ist in meinen Armen gestorben. Unsere Gesichter lagen aneinander. Ich konnte seinen Atem auf meinem Gesicht spüren. Ich lag dann die ganze Nacht bei ihm. Ich erinnere mich an den Moment, als kein Atem mehr kam, als seine Arme schlaff wurden. Ich habe gespürt, wie er gegangen ist. Ich habe es gesehen. Gesehen . Als wenn jemand aus dem Zimmer geht. Ich bin aufgestanden und habe ihn aufgebahrt. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihn gleich hier eingeäschert, zusammen mit unseren Möbeln. Wirklich. Ich hätte es getan. Ich wäre mit ihm gegangen, wenn ich gekonnt hätte. Das kannst du mir glauben. Wie eine dumme Sati. Manchmal wünschte ich, ich hätte es getan. Gott, wie ich mir das wünsche.«
    »Helen.« Paul wollte noch mehr sagen, aber sie ließ sich seitlich über ihn fallen. Sie legte sich absichtlich auf ihn. Ganz plötzlich wurde sein Gesicht an ihren Bauch gedrückt. »Beiß mich«, sagte sie. »Beiß mich, bis ich blute. Bitte.«
    Paul erkannte die gleiche Wildheit wie am Abend zuvor, als sie die Blumen über ihn geworfen hatte, die gleiche Unaufrichtigkeit. Gehorsam machte er den Mund auf und spürte, wie ihre Haut in seinen Mund drang.
    Im selben Moment klingelte es an der Tür.

FÜNFTER TEIL
Der Sturm

27
    Alt-Delhi flog auseinander. Seine Sandsteinmauern hatten sich aufgelöst und verkündeten heulend ihre Befreiung. Die Sicht kam und ging mit jedem Atemzug, mit jedem Windstoß. Ein Minarett ein Telefonladen eine Teebude verschwanden hinter Wirbeln aus Staub und Müll. Johns Gedärme hatten sich ebenfalls aufgelöst. Ihm tat alles weh. Jasmeet hielt seine Hand, oder er ihre. Und seine Gedanken stoben ebenfalls umher. Sie kamen, rasten, flogen mit den Trümmern in der trüben Luft davon. Seine Augen waren nur noch Schlitze. Er kämpfte gegen den Wind, gegen den sauren Geschmack in seiner Kehle, auf seiner Zunge. Schotter, Blätter, Blüten: Immer wieder erschien die Welt, um gleich darauf weggeweht zu werden. An der ersten Ecke lag ein Telefonmast in einem Gewirr aus Kabeln. Der staubige Wind heulte um eine blökende Ziege herum, die sich in den Kabeln verfangen hatte.
    »Wir müssen ins Hotel zurückgehen«, bettelte das Mädchen.
    Inmitten dieses Tumults fühlte sich John hellwach. Sirenen heulten. Beim Überqueren der Straße drückte er einen Arm an seinen Mund, um den Staub fernzuhalten, atmete die eigene Haut ein. Am Anfang und am Ende atmen, dachte er. Mit der anderen Hand hielt er Jasmeets fest. Warum hatte Dad das geschrieben? Warum fällt es mir dauernd wieder ein? Sie gingen tief gebückt. Dann hob sich ein Staubvorhang und enthüllte ein halbes Dutzend schwarz-gelbe Autorikschas, die geschützt zwischen einer niedrigen Mauer und ein paar Akazienbäumenstanden. Er zog das Mädchen in diese Richtung, und sie humpelte und hüpfte hinter ihm her. Es flogen ziemlich große Gegenstände durch die Luft: eine Zeitung, eine Coladose. Das hier ist das Gegenteil von meinem Labor; dieser Gedanke flog John durch den Kopf, das Gegenteil von Teamarbeit und geordneten Verhältnissen. Er fühlte sich beschwingt. Wie flatterhaft meine Gefühle sind. Dass er die Toilette überlebt hatte, hatte den Ausschlag gegeben. Oder ich bin jetzt selber in der Zentrifuge gelandet. Er lächelte. Über ihren Köpfen bogen sich die Äste der Akazien. Er hatte keine Angst. Das hier war Vaters Welt, dachte er plötzlich. Alle Phänomene umtosten seine Sinne. Ja, genau so war es. Ihm war es wirklich egal, ob ihm das Geld ausging. Sollten sie doch machen, was sie wollten. Stolpernd zog John eine Plane zur Seite, um in die erste Rikscha einzusteigen. Das kleine Fahrzeug wackelte, als sie sich über den Sitz schoben.
    »Wo ist der Fahrer?«
    »Die Fahrer warten, bis der Wind aufhört«, sagte Jasmeet. Sie umklammerte ihr Knie. »Jetzt fährt keiner. Die Motoren verdrecken bei dem Staub.«
    John hätte seine Mutter am liebsten jetzt sofort gesehen, in diesem Moment der Klarheit und Brisanz. Jetzt würde er die richtigen Worte finden; oder vielmehr, die Worte, die er sagte, würden zu den richtigen werden. Er wäre nicht gehemmt, würde nicht zulassen, dass seine Verlegenheit oder ihre Strenge die Oberhand gewannen. Ich werde hier bei dir in Delhi bleiben, würde er zu ihr sagen. Warum auch nicht? Er könnte alles Mögliche sagen.

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