Traeume von Fluessen und Meeren
Gedanken waren keineswegs abstrus.«
Paul war verblüfft. Wieder musste er warten, bis er geschluckt hatte, ehe er antworten konnte. »Hör zu, Helen, ich komme mit dem Buch überhaupt nicht voran. Es wird Zeit, es beiseitezulegen. Im Augenblick brauche ich Luft zum Atmen.«
Helen wirkte beinahe überheblich. »Davon gibt es in Bihar während der Monsun-Zeit nicht besonders viel.«
»Bihar?«
»Da herrscht gerade eine Kala-Azar-Epidemie. Wenn du Zeitung lesen würdest, wüsstest du Bescheid. Dort werden ausgebildete Entwicklungshelfer gebraucht. Ich hatte daran gedacht, mich freiwillig zu melden.« Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt nicht mal, was Kala-Azar ist, oder?«
»Ich bin gespannt, es zu erfahren.«
»Es ist eine hässliche Sache. Eine Infektion, die durch Mücken übertragen wird. Fieber, Lethargie, geschwollene Milz, Lippen und Augen bluten. Es sieht richtig furchtbar aus, riecht scheußlich, und man stirbt daran.«
»Ich komme mit«, sagte Paul.
Sie hielt das Gesicht über ihr Essen gebeugt. »Weil du frische Luft brauchst?«
»Genau.«
Helen war völlig aus der Bahn geworfen. »Und deine kleine Freundin? Ich fürchte, ich kann mir ihren Namen einfach nicht merken. Ich kann wohl kaum so aufregend sein wie sie, oder?« Als Paul nur schief lächelte, rief sie: »Du bist doch viel zu eitel, um das Schreiben aufzugeben!«
»He, Helen!«, beschwerte sich Paul. »Versuch bitte nicht, mich umzustimmen, nachdem ich mich gerade entschlossen habe. Ich möchte mich verändern. Ich freue mich darauf. Lassen wir die Frauenfrage einfach außen vor.«
Sie stand auf, um Kaffeewasser aufzusetzen. Dachte der Mann etwa, sie würde ihm alles über Albert erzählen, kaum dass er erklärte, er habe sein Buchprojekt aufgegeben, oder nachdem er ein, zwei Monate an ihrer Seite gearbeitet hatte, um es zu beweisen? War das seine Masche? Aber sie wusste, dass Paul nicht so war. Er kann penetrant sein, dachte sie, aber er ist kein Ekel. Mit Ekeln kennt Helen sich aus.
Der Teelöffel zitterte, als sie das Kaffeepulver aus der Dose in die Tasse gab. Hat Alberts Tod sie noch mehr gebunden oder befreit? Kann sie sich wirklich auf diesen Mann einlassen? Oder überhaupt auf einen Mann? Albert war nie penetrant gewesen; aber er war furchtbar verführerisch. Tag für Tag zog Albert einen in seinen Bann, bis einem selbst die groteskesten Dinge vernünftig vorkamen. »Komm, meine Liebe, wir legen uns hin«, hatte er an jenem Abend gesagt. Er hatte sie zum Bett gezogen. Monatelang war er aufgewühlt gewesen. Er war ängstlich, erregt, abgelenkt, distanziert. Sie hatte ihn nie gefragt, warum. Dann war er ganz plötzlich ruhig geworden. Er war wieder bei ihr. Er war entschlossen. Und er wusste, sie würde nicht darauf bestehen zu erfahren, warum er es wollte. »Ich möchte einfach, dass du es machst«, wiederholte er. »Ich möchte dir gehören. Bis zum Ende. Ich bin am Ende, Helen, durch. Ich will es. Bitte.« Er hatte gründlich geduscht, er brauchte nicht gewaschen zu werden. Er hatte sich sorgfältig angezogen, sie brauchte ihn nichteinzukleiden. »Das wird uns für immer verbinden und uns beide befreien«, flüsterte er. Sie sagte nichts. »Komm, wir gehen ins Bett«, sagte er. Er hatte sie bei der Hand genommen und mit sich gezogen.
»Komm, wir legen uns hin, Paul«, murmelte Helen, als sie ihren Kaffee ausgetrunken hatten. »Das ist das Einzige, was man bei einem Staubsturm machen kann.«
Paul hatte die Nacht davor in ihrem Bett verbracht, im Ehebett der James’. Die beiden hatten sich schnell und wortlos geliebt. Sie schien das Ganze auf einer rein körperlichen, oberflächlichen Ebene zu genießen. Für Paul war es neu, dass seine Libido nicht die zentrale, treibende Kraft war; es war eher, als würde er mitgezogen, angespornt, nicht direkt gegen seinen Willen, aber in Reaktion auf etwas, das darüber hinausging. Helen machte alles, zeigte ihm, was sie brauchte. Ihm blieb kaum etwas Anderes übrig, als passiv zu sein, ein passiver Mitspieler. Hinterher war es so, als sei gar nichts passiert; zwischen ihnen war immer noch alles offen.
Jetzt, wie schon gestern, wollte Helen kein Licht. Mit den schweren Vorhängen schloss sie den draußen wütenden Staubsturm aus. Aber sie war dennoch weder scheu noch verschämt. Ihr Gesicht verriet ihr Alter, nicht ihr Körper. Blindlings drückte sie sich nackt an den jüngeren Mann, presste ihre Nase in seinen Nacken, ihre Brüste an seine Brust. Er versuchte, sie beruhigend zu
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