Traeume von Fluessen und Meeren
rief Jasmeet. »Was ist los?«
Er hatte sie sehr fest gedrückt. Oder? Er ist sich vage bewusst, das Mädchen sehr heftig gedrückt zu haben. Der Wind rüttelte an der Rikscha. Er war sich eines seltsamen Unwohlseins im Kopf bewusst. Seine Kopfschmerzen sind wie eine Wetterfront. Der Sturm kommt näher. Seine Gedanken baumeln in den Ästen der Akazien. Es sind Gedanken, die der Wind von der staubigen Erde in die Lüfte erhebt, während der Regen naht. Er wickelt sie um einen Pfeiler und lässt sie flattern. John war übel vor Anspannung. Der Wind bläst die Spinnweben im Kopf weg, dachte er. Er musste Schutz suchen.
»Wo? Wo können wir Schutz suchen?«
»Was ist denn?«, fragte das Mädchen.
»Ich habe mich an seine Bestattung erinnert«, sagte John kopfschüttelnd. Seine Stimme klingt entrückt und mechanisch.Sein Kiefer fühlt sich starr an. Er darf nicht zulassen, dass sie versteht.
»Wessen Bestattung?«
Jetzt erinnerte er sich an die Schulmädchen. Ihre kleinen Füße marschierten an ihm vorbei. Grün-goldene Uniformen. Er durchlebte die Trauerfeier noch einmal. Was für hübsche junge Mädchen. Was für hübsche gelbe Blüten sie auf den Sarg gestreut hatten. Warum gibt es in Indien so viel Gelb? fragte er sich. Er sah safrangelb bemalte Gesichter. »Warum tragen Sie einen gelben Schal?«, wollte er wissen. Jasmeet blickte lächelnd zu ihm hoch. »Ich mag Gelb. Ich trage immer Gelb.«
Die Blumen hatten eine Bedeutung, da ist sich John ganz sicher. Ihm ist jetzt klar, dass er den Sarg hätte küssen sollen. Wenigstens das. Das war die Lösung. Wenn er ihn geküsst hätte, würde der Sarg ihn jetzt nicht verfolgen. Wenn er das glänzende Holz geküsst hätte, wäre es nicht im Keller im Jauchewasser verfault. Das Wasser war in seinen Gedanken sehr präsent. Riecht das Mädchen es nicht? Und noch besser wäre es gewesen, wenn ich den Leichnam gesehen hätte. Warum hatte seine Mutter das verhindert? »Albert war mein Leben«, hatte sie gesagt. Sie hat ihn absichtlich daran gehindert, den Leichnam seines Vaters zu sehen. »Und ich seins.« John ist nichts, meinte sie damit. Statt seinen Vater zu sehen, kann John sich die Sufi-Gräber anschauen, John kann zum Taj Mahal fahren, mit seinem Jawab und seiner Moschee. John kann sich andere Gräber anschauen, aber nicht das seines Vaters. Sein Vater wurde in den Fluss gestreut. Er ist verschwunden. Dad ist für immer entflohen, ins Wasser. Die perfekte Ehe meiner Eltern hat mich ausgeschlossen, dachte John. Je mehr sie ihn ausschlossen, desto unmöglicher wurde es für ihn, sie in Ruhe zu lassen. Er zitterte, obwohl die Luft warm war, der Wind war warm, der Staub warm und säuerlich. John zitterte völlig unkontrolliert.
»Mr. John!«, rief Jasmeet. Sie hatte schon ein paar Mal seinenNamen gerufen. Sie hatte sich aufgesetzt und schüttelte ihn. John versuchte, sich auf die Anhänger zu konzentrieren, die vorne in der Rikscha baumelten. Wieso hat die kleine Frau so viele Arme? Sie sieht aus wie eine Spinne auf einer Eule.
»John! Mr. John!«
Es ging ihm gegen den Strich, aber John gab sich große Mühe, er selbst zu sein, wieder zu sich zu finden. »Jasmeet«, sagte er. Seine Stimme klang gepresst. »Ich kann nicht mit Ihnen nach England zurückgehen.« Das Sprechen ermüdete ihn. Er atmete tief. »Ich habe in England eine Freundin. Wir werden heiraten. Meine Mutter wird zu unserer Hochzeit nach England kommen.«
»Lassen Sie uns zurück ins Hotel gehen«, sagte Jasmeet. »Bitte.«
Dann fiel John ganz plötzlich ein, dass seine Mutter vermutlich in ihrer Klinik war und nicht zu Hause. Wieso stelle ich mir Mum immer zu Hause vor, obwohl Mum nie zu Hause war? Sie war immer weg, bei den Kranken und Sterbenden. Schlau fragte er: »Jasmeet? Wo ist die Klinik, in der meine Mutter arbeitet?«
»In der Nähe der Shadhanad Marg«, sagte sie.
»Und wo ist das?«
»Die Straße, die vom Bahnhof zum Chandni Chowk führt. An der Eisenbahnstrecke.«
John wusste, wo der Bahnhof war. Das war nicht weit vom Govind. Vielleicht fünfzehn Minuten zu Fuß.
Er setzte sich aufrecht hin und überlegte. Draußen donnerte es jetzt.
Jasmeet war unruhig. Schüchtern fragte sie: »Wollen Sie wirklich heiraten, Mr. John? Wie heißt Ihre Verlobte?« Sie wirkte ehrlich enttäuscht.
John spürte, wie die Klarheit kam und ging. Es ist zwecklos, etwas zu sagen, erklärte ihm eine Stimme. Die Worte waren leise und überzeugend, so als würden sie über einen Tisch hinweggesprochen, in einem
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