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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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»Jedenfalls soviel ich weiß.«
    »Oh.« Dem Mädchen versagte die Stimme. »O Gott …« Sie brauchte eine Weile, bis sie in der Lage war, es ihnen zu erklären. Eine Hand spielte mit dem Ohrläppchen. John sei vor zehn Tagen weggegangen, sagte sie schließlich. »Ganz plötzlich. Er hat mir einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, er fliege nach Indien. Ich war überzeugt davon, dass er hierher wollte.«
    »Nein, bestimmt nicht.«
    Helen wirkte nicht sehr bestürzt, stellte Paul fest, weder von der Verzweiflung der jungen Frau noch von dem seltsamen Verhalten ihres Sohnes. Ihre Stimmung veränderte sich kaum. Sie war gastfreundlich, aber distanziert. »Ich habe seit Wochen nichts von John gehört.« Sie schwieg. »Offensichtlich gibt es ein Missverständnis. Wollen Sie sich wirklich nicht hinlegen? Sie müssen erschöpft sein.«
    »Aber er hat seine Wohnung aufgegeben, und seine Stelle im Labor!« Das Mädchen war voller Angst. »Alles, was er hatte. Sie müssen von ihm gehört haben.«
    Sie starrte Helen an, als könnte die ältere Frau einfach vergessen haben, dass ihr Sohn in Delhi war, oder gar in einem anderen Teil des Hauses.
    »Ich fürchte nein. John erzählt mir nie etwas. Das ist ja eine schöne Bescherung. Wollen Sie wirklich sagen, dass sie extrahergekommen sind, um ihn zu finden?« Aber jetzt schaute Helen auf ihre Armbanduhr. »Oje, und ich fürchte, ich muss gleich in die Klinik. Ich habe heute Nachtdienst.«
    Elaine war sprachlos. Helen kochte Tee. Es fiel ihr eindeutig schwer, dem Mädchen die gebührende Aufmerksamkeit entgegenzubringen.
    »Vielleicht haben wir es hier einfach mit dem Ausbruch eines jungen Mannes zu tun«, sagte sie vage, als sie von der Küche wieder ins Wohnzimmer kam, »vielleicht wollte er einfach mal was erleben, verstehen Sie?« Männer machten so etwas, sagte sie, und John hatte bisher extrem wenig erlebt. »Er hat kaum etwas gemacht außer studieren.«
    Elaine saß schweigend da, sie war kaum aufnahmefähig.
    »John hat noch nie für Geld gearbeitet«, fuhr Helen fort, während sie Tee einschenkte. Sie sprach mechanisch, wiederholte ganz offensichtlich Dinge, die tausend Mal gedacht und gesagt worden waren. »Ich hoffe, er schuldet Ihnen nichts, meine Liebe? Vielleicht hat er nur gesagt, dass er nach Indien will, weil er eine … na ja, eine Ausrede brauchte.« Helen runzelte die Stirn. »Denn warum sollte John nach Indien kommen? Er hat eigentlich keinen Grund dazu.« Sie stand auf und begann, ihre Tasche für die Arbeit zu packen. Ohne Elaine anzuschauen, fragte sie: »Habt ihr beide euch vielleicht gestritten?«
    Das Mädchen gab zu, dass sie tatsächlich ein bisschen Streit hatten. »Er war sauer, weil ich so beschäftigt war. Mit den Proben, wissen Sie. Ich spiele in einem Theaterstück mit. Die Premiere ist in zwei Wochen. Er wollte nicht, dass ich jeden Abend dort hingehe, aber es war die erste Gelegenheit für mich, wirklich etwas zu machen.«
    »John war immer ein anspruchsvolles Kind«, stimmte Helen zu. »Übrigens, das hier ist Paul.« Endlich dachte sie daran, ihn vorzustellen. Paul stand immer noch im Durchgang zu den Schlafzimmern.
    »Paul wohnt zurzeit bei mir. Er recherchiert für ein Buch über meinen Mann, der, wie Sie wissen …«
    Helen hielt inne und lächelte, als habe sie den Satz bereits beendet.
    »Es tut mir so leid«, sagte Elaine. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte sie zu dem korpulenten Mann, der jetzt mit einer galanten kleinen Verbeugung auf sie zukam. Nach kurzem Schweigen sagte das Mädchen: »John war total durcheinander. Besonders, weil er keine Gelegenheit gehabt hatte, ihn vorher noch einmal zu sehen.«
    »Wen zu sehen?«, fragte Helen mit gerunzelter Stirn.
    »Oh, Entschuldigung, ich meine seinen Dad, bevor er gestorben ist. Er war sehr … deshalb dachte ich, als ich den Zettel las, dass er nach Indien wollte, um ein bisschen mehr Zeit mit Ihnen zu verbringen. Er sagte, sie hätten nicht viel Zeit zum Reden gehabt, als er hier war.«
    »Er konnte sich nur zwei, drei Tage loseisen«, sagte Helen.
    Paul betrachtete sie.
    »Oje«, sie stand eilig auf, »ich muss mich fertig machen. Ich fürchte, bei uns herrscht zurzeit eine ziemliche Personalknappheit. Ich sollte lieber nicht zu spät kommen.«
    Ganz kurz kam Paul der Gedanke, dass Helen wissen musste, wo ihr Sohn war, es dem Mädchen aus irgendeinem Grund aber nicht sagen wollte. Warum sonst wäre sie so unbesorgt angesichts seines Verschwindens? Es sei denn, sie war noch

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