Traeume von Fluessen und Meeren
zeigte ihm die Liebesbriefe seines Vaters, und dann stritt sie alles ab. Trotzdem ließ John zu, dass sie ihn festhielt und sich sogar an ihn kuschelte, während sie auf den Rikschafahrer warteten. Sein Körper war angespannt und wie betäubt. Er hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn er seine Mutter sah. Er hatte keine Ahnung, was er sagen würde, in wen er sich verwandeln würde, wie sie reagieren würde. Es würde jedenfalls entscheidend sein. Sie würde sich aufregen. Vielleicht würde er brüllen. Oder auf die Knie sinken. Jasmeet drückte sich mit ihrem weichen Körper und ihrem Duft an ihn. Er nahm ihren Duft jetzt wahr, den süßen Geruch ihrer Haut, aber dieser Geruch hatte keine Macht über ihn. Seine Gedanken waren ganz woanders.
»Albert hat gesagt, er könne nicht mit mir schlafen, weil er mich als seine Tochter ansah, oder die Freundin seines Sohnes.«
»Was?«
Man hörte das Zerschellen von Glas.
»Er sagte immer wieder, es sei wie ein Traum, er und ich. Es sei wirklich und unwirklich zugleich. Beides.«
Sie lügt, dachte John. Sie denkt sich das aus. Er hörte kaum hin.
»Er sagte, er stellte sich vor, ich sei Ihre Freundin, Mr. John. Dieser Gedanke gefiel ihm. Deshalb konnte er nicht mit mir schlafen. Es fing an, als wir die Geschichte von seinem Bruder John spielten. Sudeep war einfach zu eifersüchtig! Albert konnte ihn echt gut imitieren. Er wollte mir so helfen, wie ein Vater seinen Kindern hilft, indem er mich nach England brachte.«
»Mir hat Dad nie geholfen!«, fuhr John sie an. Wieder zog erdie Plane weg und sah, dass der Wind ein Stück Stoff an den Pfeiler eines Verkehrsschildes geweht hatte und es dort festhielt. Es schlug wild hin und her.
Nach kurzem Schweigen sagte Jasmeet: »Ich mag Sie, John. Ich mag Sie sehr.«
Er spürte, wie die Gewalt heftiger wurde.
»Lassen Sie mich heute bei sich im Hotel übernachten«, flüsterte sie. »Ich kann auf dem Fußboden schlafen, und dann fliegen wir nach London.« Sie hob ihr Oberteil hoch und zeigte ihm einen Beutel, der an ihrem Gürtel befestigt war. Er war aus glänzendem rotem Kunststoff und lag auf ihrem flachen weichen Bauch. Sie öffnete den Reißverschluss und zog einen Pass heraus. John sah ein Bündel Banknoten. »Wir brauchen nur noch das Ticket zu kaufen«, sagte sie.
Sie blieben sitzen. Es gab keine Anzeichen für ein Nachlassen des Windes, vom Fahrer war nichts zu sehen. Ab und zu hörte man Hupen, Sirenen oder Schreie. John stellt sich vor, wie ein Mann die Plane abnimmt. »Lodhi Gardens«, sagt er zu ihm. Der Mann steigt ein, und die Rikscha rollt los durch den umherfliegenden Staub. Aber er hat es sich nur eingebildet. Die Rikscha wackelt nur im Wind. Wieder sieht er, wie die Plane gehoben wird. Ein braunes Gesicht erscheint, ein Mann mit verfärbten Lippen, schiefen Zähnen und einem blinden Auge. Es ist sein Rikschafahrer von dem Tag, als er sich mit Ananya getroffen hat. »Lodhi Gardens«, sagt er. »Schnell.«
»Was?«, fragte Jasmeet. Das Mädchen hatte den Arm um ihn gelegt und ihr Gesicht an seine Brust gedrückt. Sie hatte geredet. Sie erzählte immer noch Sachen über sich und seinen Vater. Und über Sudeep, über den Plan, nach England zu gehen. »Vielleicht werde ich Sie heiraten, so wie er es sich vorgestellt hat.« John hatte gar nicht zugehört. »Ehe es zu spät ist, sagte Ihr Vater.« »Nach Lodhi Gardens«, murmelte John. Das braune Gesicht schaute grinsend durch die Plane.
»Was?«
»Nichts«, sagte er.
John grinste verlegen. Er wusste, dass niemand da war. Das Mädchen hielt ihn umschlungen. Die Plane über der Rikscha ist jetzt lila, sie ist der Vorhang im Krematorium. John starrte sie an und wartete darauf, dass das Gesicht des Inders wiederauftauchte. Oder das Gesicht seines Dad. Er erinnert sich an den Bestatter mit der gelben Wollmütze. Ich hätte ihn bitten sollen, den Sarg zu öffnen. Stattdessen hatte er still bei seiner Mutter auf dem Rücksitz des Autos gesessen. »Ich habe den Anstand gewahrt«, murmelt John. Er erinnert sich sehr genau an die elegante Distanziertheit seiner Mutter hinter dem schwarzen Schleier. Unmittelbar und heftig überrollt ihn die Erinnerung, wie eine Welle. »Ich bin nicht hier«, verkündet er. Er erinnert sich an die seltsam grüblerische, theatralische Atmosphäre des Friedhofs mit den viktorianischen Engeln und den vermummten Figuren auf den Grabsteinen. »Ich könnte auf dem Friedhof leben«, murmelt er. »Bei den anderen Mittellosen.«
»John!«,
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