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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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Kommunikationsmittel.«
    »Das sieht ihm ähnlich«, sagte John.
    »Und warum möchten Sie unbedingt die Gräber sehen?«, fragte sie. »Haben Sie viel darüber gehört?«
    »Überhaupt nicht.« John merkte, dass ihm übel war. »Dad hat anscheinend gesagt, ich solle sie besichtigen, ebenso wie das Taj Mahal. Das steht in einer Stadt nicht weit von hier, oder? Weiß der Himmel, warum. Ich bin eigentlich nur zur Bestattung gekommen.«
    Es trat ein kurzes Schweigen ein, dann beugte Heinrich sich erneut vor. Er hatte ein langes, knochiges, ernstes Gesicht und sprach mit starkem deutschem Akzent. »Weil das Taj auch ein Grab ist«, sagte er, »das berühmteste Grab der Welt. Auf diese Weise fordert Ihr Vater Sie auf, sich über den Umgang mit dem Tod Gedanken zu machen.«
    »Genau!«, sagte Sharmistha lachend. Sie schüttelte den Kopf. »Das sieht ihm ähnlich! So war wirklich seine Art, andere zum Denken aufzufordern.« Dann fügte sie ein bisschen leiser hinzu: »Wissen Sie, John, es war seltsam, Sie beim Essen reden zuhören. Es war, als höre man noch einmal Ihrem Vater zu. Ja, wirklich! Die gleiche Art, die gleiche Stimme, manchmal sogar der gleiche Gesichtsausdruck, obwohl Sie ein ganz anderes Gesicht haben. Albert war auch immer so begeistert von dem, was er gerade machte, obwohl er natürlich niemals gesagt hätte, was Sie gesagt haben.«
    John wusste nicht, was er darauf antworten sollte. »Wie meinen Sie das?«, fragte er schließlich, aber die Frau antwortete nicht mehr. Sie waren angekommen.
    John hatte etwas Großes erwartet, und als sie beim Roten Fort aus der Rikscha stiegen, dachte er, das müsste es sein. Es wirkte erschreckend massiv und hässlich mit den riesigen Rampen; ein wahres Bollwerk des Todes. Aber Sharmistha nahm ihn beim Arm und führte ihn in die entgegengesetzte Richtung, durch Straßen, die so wirr, eng und überfüllt waren, dass er Angst bekam und ständig auf der Hut war.
    »Toll hier, nicht?«, sagte Heinrich.
    Jungen saßen auf verfallenen Mauern, und Männer in weißen Umhängen hockten mitten im Gewühl vor den prunkvollen kleinen Bethäusern, Essensbuden, Teppichläden und mit Mobiltelefonen vollgestopften Schaufenstern, die dicht an dicht die kleine Straße säumten.
    Ihr Weg führte sie in immer enger werdende Straßen, Gassen und Durchgänge, und wegen des Nebels, oder auch weil es später war, als John dachte, wurde es immer dunkler, und jetzt gingen sie über Treppen und durch Torbögen, bis sie in einem niedrigen Säulengang stehen blieben, wo ein Mann ihre Schuhe einsammeln und ihnen Duschhauben aufsetzen wollte. Sie durften nicht ohne Kopfbedeckung zu den Gräbern hinunter. Sie mussten ihre Handys ausschalten.
    John bückte sich, um seine Schuhe aufzumachen. Heinrich erzählte ihm von den Sitten der Sufis und erklärte, wer die heiligen Mystiker waren, die hier begraben lagen. Er sagte, es wäregut, im richtigen Moment an einer der Grabstätten einen Geldschein fallen zu lassen, einen Zwanziger oder Fünfziger, jedenfalls sollte man einen parat haben, als Zeichen des Respekts, obwohl dazu natürlich keinerlei Verpflichtung bestand. Aber John hörte kaum zu. Wieso verschwende ich hier meine Zeit? dachte er immer wieder. Er hatte noch kein einziges richtiges Gespräch mit seiner Mutter geführt. Vielleicht hätte ich gleich den ersten Flug zurück nehmen sollen.
    Beim Hinabsteigen zu den Gräbern bemerkte John den Lärm. Neben einem kleinen Schrein auf einem betonierten Innenhof saßen ein Dutzend weiß gewandete Männer, die sich im gleichmäßigen Rhythmus der Trommeln wiegten und dazu klatschten und tonlos sangen. Zwei rauchende Fackeln an der gegenüberliegenden Wand machten den Ort zugleich dunkler und heller als den Tag draußen.
    »Da darf ich nicht mit rein«, sagte Sharmistha, als Heinrich auf eins der kleinen Gebäude zuging. Dort brannte Weihrauch. Ein Mann bewachte den Eingang; ein kleiner Junge klopfte John auf den Arm und sagte: »Führer. Hallo, mein Herr. Ich bin Ihr Führer. Zwanzig Rupien.« John hätte ihn am liebsten geschlagen. Aus irgendeinem Grund jagte ihm dieses geistlose Singen und Trommeln einen Schauer über den Rücken. Er hasste es.
    In dem Mausoleum, das nicht größer als ein kleines Schlafzimmer war, saßen vier Männer im Schneidersitz an den Ecken eines grünen Hügels, der das Grab des heiligsten der Männer sein musste. Heinrich fing an, schweigend um das Grab herumzugehen. Es sah aus, als wäre ein Hügel aus Beton oder fest gestampfter

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