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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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dieser Arbeit. Sie strahlte die einheimischen Frauen an und schüchterte ihre misstrauischen Männer ein. Wenn sie ein eitriges Augenlid untersuchte oder eine Spritze verabreichte, war sie der Boss. Albert schien mit dem Kompromiss zufrieden zu sein. »Meine Entscheidungen betreffen nur mich allein«, sagte er, »niemanden sonst.« Zu dem Zeitpunkt erforschte er die Beziehungen zwischen dem sprachlichen Ausdruck und den körperlichen Gesten, zwischen Kommunikationsmustern und kollektivem Ethos. Manchmal saß er stundenlang in Helens Klinik und redete beiläufig mit den Patienten. Er machte Zeichnungen und Notizen. Ein bahnbrechender Aufsatz wurde verfasst: Gesten des Gebets und der Brautwerbung in der christlichen, hinduistischen und muslimischen Kultur . Einladungen zu Konferenzen und Symposien trudelten ein. Keiner von beiden verspürte den Wunsch nach einem zweiten Kind.
    In den örtlichen Krankenhäusern konnte Helen ihre Fähigkeiten nicht ausschöpfen; sie hatte mehr Patienten zu betreuen, als man mit der gebotenen Aufmerksamkeit behandeln konnte. Oft musste sie auf die nötigen diagnostischen Hilfsmittel verzichten, auf hochwertige Medikamente, auf geeignete Pflegebedingungen, auf einen Übersetzer. Sie war auf ihre Intuition zurückgeworfen, die dadurch enorm geschärft wurde. Sie roch die Krankheit förmlich. »Albert erforscht das herrschende Ethos und Pathos«, sagte sie lachend bei den seltenen geselligen Anlässen, »während ich das schlichte Bedürfnis befriedige, am Leben zu bleiben.«
    Dennoch stand ihre Ergebenheit ihrem Ehemann gegenüber nie infrage. Ganz im Gegenteil. Ihre Reisen hatten durch seineintellektuelle Brillanz eine neue Bedeutung gewonnen: Die Theorien, die er entwickelte, sollten in dem, was inzwischen als Globalisierung bezeichnet wurde, der Vermischung aller Kulturen, einen Widerhall finden. Wir waren eins von diesen besonderen Paaren – das war das Erste, was sie diesem Möchtegern-Biografen sagen wollte –, die einander vollkommen ergeben sind, weil sie ein höheres Ziel verfolgen. Zuerst kam die Mission, selbst wenn sie beide unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, worin diese Mission bestand. Deshalb war ihre Ehe so beständig.
    Aber wollen wir wirklich eine Biografie? fragte sich Helen heute beunruhigt, während sie in der Klinik ihre Patienten empfing. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menschen im Wartezimmer. Es war ein Mann mit einem schweren Leistenbruch dabei. Helen konnte sich nicht konzentrieren. Etwas Wortloses, Nagendes lauerte hinter ihren Gedanken. Während sie einen tief sitzenden Abszess am Hals eines Jungen untersuchte, formulierte sie im Geiste die Frage: Wie alt ist eine Frau, eine Witwe, mit dreiundfünfzig?

    Sie hatte sich mit Paul Roberts in seinem Hotel verabredet, weil sie nicht wollte, dass er Alberts Bücher in ihrer Wohnung sah. Es wäre schwierig gewesen, den Mann davon abzuhalten, an die Regale zu gehen und Sachen herauszunehmen. Sie musste zuerst selbst alles durchsehen. Aber sie hatte gar nicht das Bedürfnis, die Arbeiten ihres Mannes durchzusehen. Sie war müde.
    »Wer war das?«, hatte John am Abend zuvor gefragt, als sie nach dem Anruf des Biografen den Telefonhörer aufgelegt hatte.
    »Nur jemand, mit dem ich mich treffen muss«, hatte sie geantwortet.
    Ihr Sohn hatte sie angeschaut. Der Junge lag mit einer Cola in der Hand ausgestreckt auf dem Sofa. Er hatte den Fernseher eingeschaltet. Wann immer John aus dem Internat nach Hause kam – nach Hause bedeutete Afghanistan, oder Laos, oderSambia –, wartete auf ihn ein Kühlschrank voller Coca-Cola. Helen liebte seinen plumpen Kindergeschmack, und gleichzeitig störte er sie. Sie wollte streng sein, sie wollte, dass er das einheimische vegetarische Essen aß, dass er verstand, dass das Geld nicht auf der Straße lag, wollte, dass er für eine Weile mit ihr in ihr Krankenhaus ging, in das nur die Ärmsten der Armen kamen. Sie wollte ihn mit seiner jungen, wohlerzogenen Nase in den Dreck stoßen. Und zugleich wollte sie ihn verwöhnen und seine Jugend und Selbstzufriedenheit genießen. Er kam ihr wie ein Fremder vor, und sie selbst fühlte sich fremd, wenn er da war.
    »Erzähl mir von Dad«, bat John erneut.
    Helen sagte, sie könne nicht reden. »Er ist hier gestorben«, sagte sie seufzend, »in unserem Schlafzimmer. Du weißt doch, er hat immer gesagt: Man kann die Gleichung des Lebens nicht ohne den Tod erfüllen.« Sie runzelte die Stirn: »Vielleicht bin ich so weit, wenn du das

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