Traeume von Fluessen und Meeren
jeweiligen Autos und warteten.
Dennoch fragte sie mechanisch: »Worüber denn?«
»Oh, es eilt nicht«, antwortete der Mann. »Sie sind jetztsicher nicht in der Stimmung. Vielleicht geben Sie mir Ihre Nummer …«
Ebenso mechanisch wie vorher gab Helen ihm die Nummer, aber als der Mann sie in sein Handy eingab, spürte sie einen wachsenden Widerstand. »Bitte sagen Sie mir, worum es geht. Dann können Sie sich die Mühe vielleicht sparen.«
Paul Roberts gab sich zuversichtlich. »Mrs. James, ich möchte die Biografie Ihres Mannes schreiben. Ich finde, Albert James war ein herausragender Mensch, und die Geschichte seines Lebens wird für viele inspirierend sein. Sein Werk muss gesammelt, ausgewertet und neu herausgegeben werden. In meinen Augen hat die Welt noch gar nicht verstanden, was sie Ihrem Mann schuldet.«
Helen fühlte sich mit einem Mal wie erschlagen.
»Sie werden natürlich verstehen«, sagte der Amerikaner jetzt mit einem Ausdruck aufrichtiger professioneller Begeisterung, »dass es für mich von großer Bedeutung ist, dieses Vorhaben mit Ihrem Einverständnis zu realisieren, Mrs. James. Ihre Autorisierung zu bekommen. Als Ehefrau. Eine solche Unterstützung von Ihrer Seite würde mir Tür und Tor öffnen. Das Werk würde dadurch die Glaubwürdigkeit erhalten, die ein großer Mann verdient.«
Helen James gab sich Mühe, nicht zuzuhören, seine Worte an sich abprallen zu lassen. Gleichzeitig jedoch hörte sie sie ganz deutlich, verstand genau, was er sagte. Das Aufheulen eines Motors ließ die Krähen krächzend aufstieben. Er hat diese Sätze einstudiert, dachte sie. Um sie herum verströmte die Stadt ihren Dunst, ihren seltsam sauren, beißend riechenden Nebel, durch den hier und da geisterhaft das Sonnenlicht flutete.
Paul Roberts schwieg jetzt. Er schaute sie erwartungsvoll an.
»Wir telefonieren«, murmelte sie.
4
Beim Mittagessen wurde nicht über Albert James gesprochen. Sie waren ganz einfach in die Kantine der Universität gegangen, wo sie sich selbst mit Reis und Dhal bedienten und dann mit ihren Blechtellern auf den Bänken an den gut besetzten Kunststofftischen Platz nahmen. Der Vorsitzende der Theosophischen Gesellschaft sprach über eine neue Biografie von Annie Besant, während die jüngeren Leute, zu denen sich nun noch andere Freunde gesellt hatten, sich über die Pläne der Regierung ereiferten, Studienplätze für Angehörige der unteren Kasten freizuhalten. Die Beziehung zwischen einem Individuum und dem Ethos seiner Umgebung war unleugbar und flüchtig zugleich, sagte der Theosoph. Sein kleines, altes Gesicht war glatt und ausdruckslos. »In dem Sinne«, fügte er hinzu, »ähnelt sie der Beziehung zwischen Vater und Sohn, finden Sie nicht?«
Auf der anderen Seite des Tisches saß Helen James und aß, als erfülle sie damit eine Pflicht. John folgte der Unterhaltung nicht. Die junge Frau neben ihm, die Schönste aus der Gruppe, hatte sich nach seiner Forschungsarbeit erkundigt, und er war eifrig dabei, die komplexen Experimente zu beschreiben, an denen sein Team arbeitete. Inzwischen interessierte ihn allein schon die rein technische Herausforderung, die derartige Experimente heutzutage darstellten, erklärte er. Es galt vor allem, winzigste Teilchen zu isolieren, die auf unglaublich komplexe Art und Weise miteinander verbunden waren.
Ein zierliches, dunkelhäutiges Mädchen und ihr ernstblickender, bebrillter Partner schalteten sich in das Gespräch ein. Worum es in dem laufenden Projekt ging, erzählte John ihnen, war die Ermittlung aller, wirklich ausnahmslos aller Bedingungen, die nötig waren, um den Lebenszyklus eines bestimmten Tuberkel-Mycobakteriums aufrechtzuerhalten, sobald es nach der Erstinfektion in den inaktiven Zustand übergegangen war: Nährstoffe, Eiweißproduktion, Zellwand-Widerstand, Umgebung, Reproduktionsbedingungen und so weiter und so fort.
»Sie meinen also«, sagte der ernst aussehende Mann, »Sie suchen nach jeder Möglichkeit, das Bakterium abzutöten.«
Aber jetzt war auf Johns Handy eine SMS eingetroffen. Er spürte, wie es in seiner Tasche vibrierte. »Vorsprechen katastrophal«, las er. »Regisseur ein Arschloch.« John seufzte und steckte das Telefon wieder ein.
»Nun, ja und nein«, antwortete er dem Mann mit der Brille. »Wir überlegen, wie wir die Reaktivierung des schlummernden Bakteriums verhindern können, das etwa ein Drittel der Erdbevölkerung in sich trägt. Tatsächlich ein Drittel. Also untersuchen wir die Bedingungen, die
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