Traeume von Fluessen und Meeren
für das Überleben des Bakteriums im inaktiven Zustand und seine Reaktivierung gegeben sein müssen, damit jemand anders dann darüber nachdenken kann, wie man dem Bakterium diese Bedingungen verwehren kann.«
Dann erklärte John, dass er selbst nur ein Glied in einer langen, keineswegs geradlinigen Kette von Forschern war, die sich mit der Entwicklung eines Medikaments beschäftigten, mit dem man dieses Bakterium unschädlich machen oder seine Reaktivierung verhindern könnte, und zwar so einfach und so ungiftig wie möglich. Das war der Fortschritt, nach dem sie strebten: ungiftige Prävention. Keine Nebenwirkungen. Er würde Elaine später antworten, dachte er, ihr ein paar tröstende Worte schicken.
Ein Team, sagte er, untersuchte den Lebenszyklus desBakteriums, wie es vom aktiven in den inaktiven Zustand überging und umgekehrt, ein weiteres seine Biochemie, seine Zellstruktur – »um die Schwachstellen ausfindig zu machen, die Angriffspunkte, wenn Sie so wollen« –, wieder ein anderes untersuchte, welche Substanzen an diesen Angriffspunkten wirksam eingesetzt werden oder aber eine oder mehrere der Bedingungen für das Überleben des Bakteriums ausschalten konnten. Jemand anderer untersuchte diese Substanzen dann auf ihre Nebenwirkungen, wieder ein anderer dachte darüber nach, wie man sie anwenden und aufbereiten konnte, und schließlich überlegte sich jemand, wie man sie herstellen und vertreiben konnte.
»Niemand hat folglich den Überblick, verstehen Sie«, schloss John, so als spreche er eine tiefe Wahrheit aus. »Ich meine, ich glaube nicht, dass man heutzutage auch nur ein ganz gewöhnliches pharmazeutisches Projekt gänzlich verstehen kann. Das versucht auch niemand. Das wäre, als wollte man die ganz Welt im Kopf haben.«
Die Inder hörten ihm schmeichelhaft aufmerksam zu, ganz anders als Elaines Theaterfreunde. Lächelnd nippte John an einer Tasse ekelhaft süßem Tee. Eine Pause trat ein. »Es wäre ein Triumph«, ließ der Theosoph in die relative Stille hinein verlauten, »wie der gute Albert einmal geschrieben hat, glaube ich, einen Punkt zu erreichen, an dem die eigene Biografie nicht mehr ist als die von Gott selbst. Können Sie sich vorstellen, wie befreiend das wäre? Ganz ohne persönliche Geschichte zu sein?«
Während er das sagte, schob Helen James ihren Stuhl zurück, stand auf und erklärte, sie müsse jetzt gehen. Nach einem Kälteeinbruch sei die Klinik immer überlastet, sagte sie. John wischte sich ebenfalls den Mund ab. Seine Mutter sah blass aus. »Nein, nein«, sagte sie schnell zu ihm. »Bleib du ruhig noch. Es ist schön zu hören, wie begeistert du von deiner Arbeit erzählst. Das gibt mir Zuversicht. Ach, John möchte übrigens gerne dieSufi-Gräber besichtigen«, verkündete sie dem Rest der Tafel. »Falls jemand von Ihnen Zeit hat, könnte er oder sie vielleicht heute Nachmittag mit ihm hinfahren.«
Sofort hagelte es Angebote. Die Leute waren so höflich, dass es beinahe komisch wirkte. »Ich fahre Sie hin«, sagte die Frau neben John. Sie hatte eine breite Stirn und sehr schöne dunkle Augen, aber seltsam schmale Wangen über dem vollen Schmollmund.
Helen schaute sie einen Moment lang an. »Vielen Dank, Sharmistha. John, mein Schatz: Wir sehen uns heute Abend. Herzlichen Dank Ihnen allen«, wiederholte sie, »Sie waren sehr freundlich, danke«, und dann eilte sie hinaus.
»Die arme alte Helen«, sagte jemand nach kurzem Schweigen. »Sie arbeitet wirklich viel.«
Einer der älteren weißen Männer, der drei, vier Plätze weiter saß, beugte sich vor und fragte: »Wie verkraftet Ihre Mutter es, John? Können wir irgendetwas für sie tun?«
John war überrascht. Er schluckte sein Essen hinunter. Mutters Motto, sagte er, war immer: Einfach weitermachen . Dann erzählte er spontan eine beispielhafte Begebenheit aus ihrer Zeit in Neuguinea – inzwischen eine Art Familienlegende: Als der einheimische Stamm damals behauptete, Dad habe ein Mädchen mit einem Fluch belegt und es habe daraufhin sein Baby verloren, ist Mum einfach ganz normal weiter in die Klinik zur Arbeit gegangen, obwohl sie drohten, ihr, seiner Mutter, nicht seinem Vater, den Kopf abzuschneiden und einen Schrumpfkopf daraus zu machen, denn anscheinend rächte man sich in dieser Gegend nicht, indem man den Mann, der einem etwas getan hatte, tötete, sondern seine Frau.
»Wie praktisch«, sagte jemand schmunzelnd.
»Tja, und die Einheimischen waren so verblüfft, als Mum einfach weiter ihre
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