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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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Operationen durchführte und Medikamente verteilte, als wäre gar nichts vorgefallen, dass sie sie in Ruheließen. Ihnen muss dadurch klar geworden sein, dass sie irgendwie nicht zu ihrer Welt gehörte. Sie konnten sie durch nichts aus der Fassung bringen.«
    »Und Albert?«, fragte jemand etwas sachlicher. »Das muss zu der Zeit gewesen sein, als er Wau geschrieben hat. Wie hat Albert reagiert?«
    »Oh, ich war damals noch nicht auf der Welt«, sagte John, »ich kenne die Geschichte auch nur aus Erzählungen.« Aber er fügte hinzu: »Dad war ganz generell sehr ängstlich, deshalb hat er auch so viele Informationen gesammelt, ohne je wirklich etwas zu vollbringen.«
    Das war eine gemeine Bemerkung, und John hatte sofort das Gefühl, er hätte sie nicht am Tag der Bestattung seines Vaters machen sollen.
    Der Theosoph schaute ihn eindringlich an. »In deinen Worten liegt mehr Weisheit, als du dir vorstellen kannst, mein Junge«, sagte er mit seinem schleppenden, undeutlichen Akzent. Er lächelte dabei leise hinter seinen dicken Brillengläsern.
    Es war Jahre her, dass jemand John »mein Junge« genannt hatte. Er schob seinen Stuhl zurück, bereit zum Aufbruch.

    Die Frau, die seine Mutter Sharmistha genannt hatte, musste etwa achtundzwanzig sein, dachte John, und sie war sehr klein, fiel ihm jetzt auf, hatte aber eine gute Figur. Sie hatte einen der älteren Männer mitgebracht, der sich als Deutscher entpuppte. Hatten die beiden eine Beziehung? John war das egal. Er hatte Elaine immer noch nicht geantwortet, obwohl sie daran gewöhnt war, dass er umgehend reagierte, wenn sie ihm eine SMS schickte, besonders, wenn etwas schiefging und sie deprimiert war. Aber schließlich war heute der Tag, an dem sein Vater bestattet worden war.
    »In Neu-Delhi braucht man ein gutes, schnelles Taxi«, sagte der Deutsche fröhlich, »aber in Alt-Delhi ist eine Autorikschadas beste Verkehrsmittel; damit kommt man viel leichter durch den Verkehr.«
    Der Dunst war noch dichter geworden. Die Luft war feucht.
    »Und ich habe nur leichte Sachen dabei«, beklagte sich John. »Ich hätte nie gedacht, dass es hier so kühl werden kann.«
    »Frauen dürfen nicht hinunter in die Gräber«, sagte Sharmistha, als wolle sie erklären, warum sie Heinrich mitbringen musste. »Ist Ihnen kalt?«
    »Ein bisschen«, sagte John.
    Trotz der schweren Plane über der Autorikscha wurde die Luft kühl, als sie an Tempo zulegten. Der Fahrer schien sich eine Art Handtuch um den Kopf gewickelt zu haben. Als sie an einer Ampel hielten, schob John die Plane zur Seite und erblickte drei Jungen ohne Helm, die nur Zentimeter von ihm entfernt auf einem Roller saßen. Einer von ihnen hielt in jeder Hand eine Milchkanne. Sie lachten und johlten inmitten der Abgase.
    Beim Anblick der Fahrzeuge, die sich auf die Kreuzung drängten und zum Teil auf den trockenen Lehmboden am Rand ausweichen mussten, der vielen Fußgänger, die sich durch Lastwagen und Busse hindurch einen Weg suchten, und eines Eselskarrens, der hoch mit Altmetall beladen war, staunte John über die Fülle und Betriebsamkeit des Lebens hier. Warum hatte sein Vater sich immer solche Orte ausgesucht? Warum hatte er nie in einer ordentlichen Stadt gewohnt, wo man etwas zustande bringen konnte?
    »Verzeihen Sie mir, ich hätte mich längst erkundigen sollen, was Sie machen«, sagte er jetzt zu Sharmistha. »Ich rede nur über mich.«
    »Heinrich ist in der Psychiatrie«, sagte sie. »Er lebt schon seit zwanzig Jahren in Indien.«
    Der Mann beugte sich lächelnd vor. Es war eng in der Autorikscha.
    »Aber ich bin eigentlich nicht an der Universität«, fuhrSharmistha fort. »Ich schreibe nur für wissenschaftliche Zeitschriften und so etwas. Im Augenblick arbeite ich mit ein paar Leuten in der Zoologie zusammen, die eine Spinnenart erforschen, welche eine ungewöhnlich haltbare Seide erzeugt. Ich verfasse für sie ein Buch darüber.«
    John bemühte sich, Interesse zu zeigen, war aber plötzlich abgelenkt von ihrem Parfum. Es war ihm bislang gar nicht aufgefallen; ein starker, süßer Duft, der ihn heftig anzog.
    »Das Team, für das ich arbeite«, sagte sie, »interessiert sich in erster Linie für die chemischen Prozesse, mit deren Hilfe die Spinne die Seide erzeugt. Sie versuchen, den Stoff synthetisch nachzuahmen. Aber Ihr Vater interessierte sich für verschiedene Muster und Ebenen der Kommunikation. So kam er zum Team. Er war überzeugt, die Herstellung des Spinnennetzes sei im Grunde ein

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