Traeume von Fluessen und Meeren
sieben eintreffen, sagte er sich, so wie er sie kannte. Sie fing immer früh an zu arbeiten. Er würde nicht lange warten müssen. Ich bin zu allem bereit, sagte er sich.
Etwa zehn Minuten später erblickte er das große rote Kreuz an einer nachlässig geweißten Ziegelmauer. Die Straße war voller Schlamm und Schutt. Hier und da schnüffelten und scharrten Hunde und andere Tiere. Ein kleines Schwein lag tot im Rinnstein. Krähen sammelten sich. Sie hockten auf dem rostigen Zaun an der Bahnlinie.
Ich muss sie sehen, ehe ich erneut einen Anfall kriege, sagte er sich. Er hatte jeden Sinn dafür verloren, was ausgesprochen werden musste und warum. Die Erlösung bestand darin, Mutter zu finden, sie zur Rede zu stellen und sie mit nach England zu nehmen. Dann wird er nie wieder außer sich geraten.
An der Ecke war ein mit einem Vorhängeschloss verriegeltes Tor, vor dem bereits ein Dutzend Menschen hockten. Sie versuchten, sich vom Schlamm fernzuhalten. Hier musste es sein. Sie warten darauf, dass die Ambulanz geöffnet wird, dachte John. Oder dass sie ihre kranken Verwandten besuchen können.
Er ging direkt zum Tor und klingelte. Er wartete. Vielleicht ist dieser Wahnsinn eine alte Krankheit, die wiederkommt, so wie TB nach Jahren der Inaktivität wieder auftreten konnte. Der schlummernde Wahnsinn hält sich in Träumen am Leben und bricht dann plötzlich in die Welt des Tageslichts ein. Letztendlich hatte es sich gar nicht so ungewohnt angefühlt. Es hatte ihn nicht wirklich erstaunt, Schlangen am Himmel und Zeichnungen an der Wand zu sehen. Vielleicht ist die Normalität nur die Klammer, dachte John. Die anderen Leute vor dem Tor beachteten ihn gar nicht.
Ein Dunst stieg jetzt von der schlammigen Straße auf. Die Luft war milchig geworden. Die Helle des Morgens verschwandlangsam. John klingelte noch einmal. Der Wahnsinn lebt in den Träumen, dachte er, und wartet auf einen Moment der Schwäche, um hervorzubrechen. Er wartet auf eine Lücke in der Verteidigung. Dann bricht er über einen herein wie ein reißender Fluss. Das gewöhnliche Ich wird überwältigt. Ein Labor ist eine Klammer in der Klammer, dachte John. Wieso rasten seine Gedanken derart? Wieso sage ich mir diese seltsamen Dinge? Woran er sich am besten erinnern konnte, war das Gefühl akuter Atemnot. Bitte, lieber Gott, lass es nicht wiederkommen. Es hatte angefangen, als er mit Jasmeet in der Rikscha saß, war angeschwollen, immer stärker geworden und hatte ihn schließlich überwältigt, als er das Hotelzimmer betrat. Er war niedergeschlagen und gewürgt worden. Eine riesige Welle war mit Wucht über ihn hereingebrochen. Er lag in der Brandung. Was immer er dann getan hatte, war nur der Versuch gewesen, sich daraus zu befreien.
»Hallo, Sir?«
Das Tor war einen Spalt weit offen. Ein kleines Gesicht schaute ihn von unten an. »Die Klinik öffnet um sieben, Sir.«
Andere waren aufgesprungen und drängten heran.
»Ich bin John James«, sagte John. »Meine Mutter arbeitet hier. Dr. Helen James. Ich muss sie dringend sprechen. Es ist sehr dringend. Vielleicht kann ich drinnen warten, wenn sie noch nicht da ist.«
Es war ein älterer Mann mit einem lose gebundenen roten Rajasthan-Turban. Seine Jacke war nicht zugeknöpft, die Augen waren blutunterlaufen, aber sein Blick war wach.
»Dr. James hatte heute Nachtschicht«, sagte er. »Kommen Sie herein, Sir. Sie sind willkommen.«
Mutter ist hier. Johns Herz machte einen Sprung. Jetzt! Gleich würde er sie sehen. Das Abenteuer war vorbei.
Der alte Mann schloss das Vorhängeschloss wieder, obwohl es schon wenige Minuten vor sieben war. Er ging gebückt und hatte O-Beine.
»Sie müssen Ihre Schuhe ausziehen, Sir.«
»Ja, pardon.«
Warum vergaß er das immer? Rechts von der Tür waren drei Regale mit grünen Baumwollslippern. Er zog seine Sandalen aus. Der Pförtner wartete. Es waren keine dabei, die für Johns Füße groß genug waren. Wie betäubt vor Aufregung zwängte er sich in zwei ungleiche Schuhe und stolperte hinter seinem Führer her.
»Ich weiß nicht, ob Sie sie in Station oder in Behandlungszimmer finden, Sir.« Der Mann kratzte sich unter dem Turban. Er schaute auf seine Armbanduhr. »In Station«, entschied er dann.
Sie gingen den Flur hinunter. Plötzlich wäre John am liebsten geflohen. Es stank nach Desinfektionsmittel. Er wäre am liebsten geflohen, aber nur, weil er weiß, dass es dafür zu spät ist; er ist bereits drinnen. Alles läuft jetzt auf den entscheidenden Moment zu. Es
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