Traeume von Fluessen und Meeren
gibt keine weiteren Ablenkungen. Kein Indien mehr zwischen ihm und seiner Mutter. Nur ein kurzes Stück Flur.
John musste schlurfen, um die Hausschuhe nicht zu verlieren. Er hatte sie nicht über die Fersen ziehen können. Die Wand zu seiner Rechten war mit Notizen in Hindi übersät, zur Linken gingen schmutzige Fenster auf einen trostlosen Innenhof hinaus. Alles war ärmlich und fremd. Aber Mutter ist diejenige, die überrascht sein wird, dachte er. Ich habe ihr Dinge zu sagen, die ihr Leben verändern werden. Jetzt wird sie mir zuhören müssen. Mutter war diejenige, die nicht entkommen konnte.
Der Türsteher stieß eine Schwingtür auf. Die halb geöffneten Jalousien schnitten das Tageslicht in dünne Streifen. Die Strahlen fielen auf die grünen Bettdecken, unter denen Patienten sich regten oder noch schliefen. John sah einen kleinen Jungen, der sich hin- und herwälzte, seine Mutter saß bei ihm. Eine große junge Frau in weißem Kittel und Kopftuch kam ihnen entgegen. Der Pförtner sprach auf Hindi mit ihr. Sie schaute ebenfalls auf ihre Armbanduhr.
»Ich wusste gar nicht, dass Dr. James einen Sohn hat«, sagte sie.
»Ich lebe in London«, erklärte John.
»Da haben Sie Glück«, sagte die Schwester lächelnd. »Aber Dr. James ist noch in ihrem Behandlungszimmer«, sagte sie zum Pförtner. »Ich glaube, sie hatte eine schlimme Nacht. Ein Junge war sehr krank.«
»Es ist dringend«, murmelte John. »Es geht um meinen Vater.«
»Ich bringe Sie in Behandlungszimmer«, sagte der Pförtner. »Hier entlang.«
Im Flur war jetzt ein Mann mit Fegen beschäftigt, und drei Jungen, die mit Topflappen Bleche voll dampfendem Backwerk trugen, liefen hastig an ihnen vorbei.
»Rashid!«, rief jemand.
Sie bogen um eine Ecke. »Dr. James’ Behandlungszimmer«, verkündete der Pförtner. Er klopfte und trat zur Seite, damit John eintreten konnte.
»Rashid! Die Mülleimer!«
John stieß die Tür auf. Drinnen war es dunkel.
»Mum?«
Es roch merkwürdig, stickig und süßlich, nach Medizin.
»Mum, ich bin’s, John.«
Plötzlich erschrak er und wich zurück. Sie ist nicht hier, dachte er. In dem Raum war niemand. Aber John war jetzt auf sich allein gestellt. Der Pförtner war mit klimpernden Schlüsseln davongeeilt.
John ging wieder hinein. Mit einer Hand tastete er nach dem Lichtschalter an der Wand, fand ihn jedoch nicht. Ein dünner Lichtstreifen auf dem Boden machte langsam die Umrisse der Möbel erkennbar. Direkt vor ihm stand ein großer Schreibtisch. Zu seiner Linken ein Glasschrank, und an der Decke musste ein unsichtbarer Ventilator sein, der sich langsam drehte.
Am auffälligsten war der Geruch. Ein dicklicher Geruch.Sehr seltsam. Die Luft war dick. John machte einen Schritt nach vorne und legte die Hand auf etwas Weißes. Ein Blatt Papier lag auf dem Schreibtisch, und quer darüber ein schlanker schwarzer Stift. Wie gezielt platziert er wirkte! Fast wie ein Messer. John zog die Hand weg, drehte sich um und sah, dass das Licht unter einem Rollo hindurchdrang, hinter dem sich eine Balkontür verbarg. Hinter dem Schreibtisch erkannte er jetzt die Ecke einer Matratze.
»Mum?«
Er bewegte leicht den Kopf und sah einen Fuß. John stand ganz still. Nein, er wollte sie nicht wecken. Ein nackter weißer Knöchel. Er trat zurück und griff nach dem Blatt Papier auf dem Schreibtisch. Er wollte seine Mutter nicht stören, wenn sie eine schlimme Nacht gehabt hatte. Er stand ganz still und dachte unwillkürlich an den unglücklichen Moment in ihrem Schlafzimmer, als er die Elefanten in der Hand hatte. Ich hätte mich entschuldigen sollen.
»Mum?«
Sie gab keine Antwort. Sie hat eine schlimme Nacht gehabt, sagte er sich, und jetzt schläft sie tief und fest. Den tiefen, erholsamen Schlaf des frühen Morgens. Jasmeet hatte das Schlafen ebenfalls genossen. Man sah, wie ihr Körper sich in sich selber hineinkuschelte, sich selber auskostete.
Unsicher, was er tun sollte, nahm John das Blatt Papier vom Schreibtisch. Instinktiv und unvermittelt griff er danach. Der Stift rollte herunter und fiel klappernd zu Boden. Erstaunlich, was für einen Krach das machte. John hielt den Atem an. War sie aufgewacht? Mum arbeitete so hart. Aber er hörte nur das Klicken und Rotieren des Ventilators.
John sah sich das Blatt in seiner Hand an. Es war voll beschrieben. Er hob es an sein Gesicht. Die Zeilen waren sehr ordentlich. Es war eindeutig ihre Handschrift. »Lieber Paul« , las er. Der Brief war nicht an ihn gerichtet. »Nach
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