Traeume von Fluessen und Meeren
langem …«
Aber es war zu dunkel, um flüssig zu lesen. Das Licht kommt mehr von unten als von oben. Der Fußboden vor dem Fenster ist hell, und alles andere liegt im Dunkeln. Wer war Paul? fragte er sich. Ich darf sie auf keinen Fall wecken, wenn sie eine schlimme Nacht hatte. Was machte es schon, wenn er die Begegnung noch ein, zwei Stunden aufschob? Wieso habe ich jetzt Angst? fragte er sich: »Du hast immer Angst zu fragen, John.« Er schien ihre Stimme zu hören. »Du fragst nie.«
»Mum?«, rief er leise. Er wusste, es würde sie nicht wecken. Aber wenn sie wach war, würde sie es hören. Dann werde ich fragen. Ich werde fragen, bis ich alles erfahren habe. So lange werde ich fragen.
John wartete. Und er würde fragen, ob sie ihn gernhatte, dachte er; er würde ganz direkt und offen sein; er würde sie bitten, mit ihm nach London zurückzugehen.
»Mum?«
Als sie nicht antwortete, zog er sich in den Flur zurück, den Brief in der Hand. »Lieber Paul« , las er. Es war eindeutig die Schrift seiner Mutter, sauber und gestochen, energisch.
Lieber Paul!
Nach langem Nachdenken habe ich mich entschlossen, Dir meine Unterstützung für eine Biografie von Albert zu gewähren. Sie wird leichter zu schreiben sein, wenn ich nicht da bin. Alberts Leben verdient eine Biografie, und sei es nur, weil er alles getan hat, um nicht im Rampenlicht zu stehen und sein Genie zu verbergen. Er hatte zugesehen, wie seine eigene Familie durch einen Kampf zwischen seinem Bruder und seinem Vater auseinandergerissen wurde, einen Kampf, in den ein Mädchen auf ziemlich unschöne Weise verwickelt war, und obwohl er mir nie die Einzelheiten erzählt hat, wusste ich doch, dass er bei all seinem anthropologischen Interesse und seiner Verhaltensforschung von der Frage getriebenwurde, wie es zu solchen Katastrophen kommen konnte und wie man sie vorhersehen und vermeiden könnte (das erklärt vielleicht sein begeistertes Interesse an Tabus).
Durch einen seltsamen Zufall – denn letztendlich liegt allem immer eine zufällige Begegnung zugrunde –, durch eine merkwürdige Fügung wurde Albert mein Schicksal und ich seins. Um ehrlich zu sein, habe ich nie verstanden, warum die Welt ihn nicht verehrt hat. Er war ein Mann, der mir viel geholfen hat, der mir viel vergeben und sogar einen Sohn, von dem er gewusst haben muss, dass es nicht seiner war, wie seinen eigenen aufgezogen hat. Er glaubte an nichts, das jenseits dieser Welt liegt, und dennoch war es sein sehnlicher Wunsch, das Leben mit Zeremonien und Schönheit aufzuwerten, und ich glaube, durch seinen Tod haben wir auch eine Zeremonie vollzogen, einen Akt der Liebe, wie Du es, mit einer Intuition, die mich offen gestanden überrascht hat, sogleich beschrieben hast.
In den letzten Monaten habe ich versucht, mich von dieser Zeremonie zu befreien, und ebenso von Albert, aber je mehr ich versuche, mein alltägliches Leben weiterzuführen und meine Lebenslust zurückzugewinnen, desto mehr habe ich das Gefühl, dass das alles für mich nur möglich war, solange es Albert gab. Ich erkenne allmählich auch, dass keine Zeremonie alleine existiert. Jede ruft nach der nächsten, ähnlich wie die Feste im Kalender. Heute Nacht regnet es nach einer langen Trockenperiode. In jener Nacht im Januar hat es auch geregnet. Ein junger Mann ist heute bei mir, der Albert kannte und von dem ich weiß, dass er sich danach sehnt, ihm den Fluss des Vergessens hinunter zu folgen. Ehe ich allzu poetisch werde, will ich ihm den Weg zeigen.
Du hast also Deine Geschichte, Paul. Du hast Dein Buch. Das wird Dir mehr bringen als eine Reise nach Bihar. Du hast Freundinnen und Kinder, zu denen Du zurückkehren solltest. Du bist nicht gemacht für meine Art von Arbeit. Du bist zu eitel dafür, Du würdest es nur aus einer verdrehten Eitelkeit heraus tun, um mitDir selber zu kämpfen. Zum Abschied danke ich Dir für Deine schmeichelhafte Aufmerksamkeit. Ich vermache Dir Alberts gesamte Texte, Videos und Tonbänder. Du kannst alles nehmen, was Du findest. Im Gegenzug wäre ich Dir sehr dankbar, wenn Du Dich um die Einäscherung kümmern könntest. Ein Vermögen, das verteilt werden muss, gibt es nicht.
Voller Zuneigung,
Helen
P.S. Ich hatte manchmal das Gefühl, Albert hat Dich zu mir geschickt, um mir diesen Weg zu zeigen. Ich weiß, das ist ein merkwürdiger, irrationaler Gedanke, aber ich wollte ihn Dir mitteilen. Albert hat immer geglaubt, dass eine Aufgabe am besten von dem erfüllt werden kann, der nicht
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