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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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weiß, dass sie ihm übertragen wurde. Die Asche in den Fluss streuen, bitte, an der Wazi-Brücke.

    John las den Brief mehrmals, mindestens drei, wenn nicht gar vier Mal. Worum ging es? Er schien nicht in der Lage zu sein, ihn langsam und sorgfältig zu lesen, wie er es immer mit wichtigen Texten machte. Die Worte schienen seinen Blick zurückzuweisen und abzufälschen, sodass er mal zwei Zeilen nach oben abwich, mal drei nach unten, mal nach links, dann wieder nach rechts; sein Blick kam nicht zur Ruhe, und er musste sich anstrengen, die aufgeschnappten Satzfetzen zusammenzufügen: der Regen, der Fluss, die Wazi-Brücke, eine durch Kampf auseinandergerissene Familie.
    John schüttelte frustriert den Kopf. Auf dem Flur war mittlerweile einiges los, und er stand im Weg. Ein schwerer Rollwagen kam vorbei, voll beladen mit kleinen Portionen Reis in Alufolie. Auch eine riesige Teekanne aus Zinn stand darauf. Menschen stellten sich drängelnd an. Ein Mann trug ein Kind auf dem Arm, während ein anderes neben ihm ging und sich an seinem Hosenbein festhielt.
    John ging zurück ins Büro seiner Mutter und schloss die Türhinter sich. Es steckte ein Schlüssel im Schloss, und einer unglücklichen Eingebung folgend drehte er ihn um. Wieder fiel ihm der starke Geruch auf, süß und medizinisch, unangenehm. Was meinte sie damit, wenn ich nicht da bin. Wollte sie zurück nach London? Ein Sohn, von dem er gewusst haben muss, dass es nicht seiner ist . Was sollte das denn heißen? Habe ich irgendwo einen Bruder? Wieso kann ich nicht richtig lesen? Es ist doch ganz deutlich geschrieben. Es gab keine einzige Stelle auf der Seite, wo etwas durchgestrichen oder verbessert worden war. Wieder hob er den Brief vor die Augen, aber es war immer noch nicht hell genug hier im Behandlungszimmer. Die sichere, gerade Handschrift seiner Mutter verschwamm zu einem Netz aus Hieroglyphen. Einäscherung? Vermögen. Er verstand nicht, an wen das alles gerichtet war und warum.
    John stand zwischen Tür und Schreibtisch. Der Schreibtisch war leer bis auf ein Stethoskop, einen Stapel bedruckter Papiere und eine flache Schachtel mit sterilisierten Handschuhen. John berührte einen davon. Sie waren aus Gummi in der Farbe von Kondomen, ein elastisches, klebriges, transparentes Graubraun. Es war nie etwas Besonderes in den Schränken seiner Eltern gewesen, erinnerte er sich, als er alles mit pubertärer Neugier durchsucht hatte: auch nicht im Nachttisch, in den Schubladen und den Kisten und Kartons. Er hatte alles mehrmals durchforstet. Seine Schulfreunde hatten mit ihren Entdeckungen geprahlt, von enthüllenden Briefen, Pornografie oder gar einer Pistole erzählt. Aber John war in seiner Neugier nur auf die kühle Undurchsichtigkeit der perfekten Ehe seiner Eltern gestoßen, auf ihr untadeliges Leben.
    John stand immer noch am Schreibtisch, den Brief in der Hand, und fühlte sich wie gelähmt, völlig handlungsunfähig. Er starrte jetzt das Stethoskop an. Es erinnerte eindeutig an eine Gummischlange. »Gleich wird dir wieder übel werden«, murmelte er. »Schlangen machen dich krank.« Ich muss jetztaufwachen, dachte er. Er war der Panik nahe. Nein, ich muss sie aufwecken. Na los, komm schon, fang an zu reden, zu brüllen, tu was, ehe dein Verstand erneut zusammenbricht.
    Alles war so fragil. John ist sich jetzt sicher, dass es etwas gibt, das er verstehen muss, etwas, das er in sich aufnehmen muss, aber möglichst ohne dabei zu zerbrechen, ohne dabei in Stücke zu gehen. Wenn er es nur lesen könnte wie eine Grafik in einem Bericht, dachte er, wie einen Ausdruck im Labor. Wenn ich kühl und ruhig lesen könnte, was ich begreifen muss. Stattdessen brodelt es in ihm und wird irgendwann wie Kotze aus ihm herausschießen. Warum um alles in der Welt hatte er so viel gegessen? John hat akute Angst, dass sein Bewusstsein jeden Moment im Chaos versinken wird.
    »Mum?«
    Erneut ging er um den Schreibtisch herum, hinter dem sie schlief. Sofort sah er wieder den Fuß. Sie hatte sich nicht gerührt. Und die schlanke weiße Wade. Aber hier war es dunkler.
    Er blieb stehen. Jetzt, da er gesehen hatte, wo das Licht herkam, hätte John leicht zum Fenster gehen, das Rollo hochziehen und alles offenlegen können. Er weiß das. Mum wird sich sicherlich freuen, ihren Sohn zu sehen, auch wenn sie nicht gut geschlafen hat. Warum zögert er dann, warum bewegt er sich zentimeterweise um den klobigen Schreibtisch herum?
    Weil ich nicht stören will natürlich. Auf dem Boden neben

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