Traeume von Fluessen und Meeren
hatten.
»Und jetzt?«, fragte Paul. »Was machen wir jetzt?«
Sie erklärte sich einverstanden, ihre nassen Sachen abzulegen, den Bademantel anzuziehen und sich aufs Sofa zu setzen. »Ich bleibe bis sechs auf«, sagte sie. »Geh ruhig ins Bett.«
Paul war zu galant, um sie allein zu lassen. Und immerhin konnte sie es sich ja doch noch anders überlegen.
»Whisky oder Tee?«, bot er an.
Sie wollte Tee. Sie saß im Schneidersitz in dem Bademantel da, achtete darauf, dass alles gut bedeckt war, zog den Kragen fest um ihre Brust und stopfte sich die Zipfel zwischen die Beine. Diese Bewegungen verstärkten die Atmosphäre häuslicher Nähe, wie zwischen Vater und Tochter.
»Mein Gott, ist es hier still«, sagte sie. Dann, als sei sie noch in einem anderen Gespräch, fuhr sie fort: »Ich werde keine Entscheidung treffen, ehe ich John gesehen habe.«
»Und wenn du ihn nicht findest?«
Sie fing an zu erklären, dass sie Johns Antrag damals abgelehnt hatte, weil es ihr zu früh erschien, es passte nicht zu ihren Plänen, Schauspielerin zu werden. Sie war ehrgeizig, und er war ihr überspannt vorgekommen, nicht ganz bei sich. Er war so jung. Jetzt hatte sie John verloren, und ihren Ehrgeiz womöglich noch dazu.
»Sobald du nach London zurückkommst, wirst du wieder Lust bekommen«, versicherte Paul ihr. »Besonders wenn deine Eltern dir sagen, du sollst dir eine ordentliche Arbeit suchen.« Er lachte. »Wenn ich zum Beispiel nach Boston zurückginge anstatt nach Bihar, dann würde ich innerhalb von Tagen einen Vorschlag für irgendein neues Buchprojekt einreichen, da kannst du Gift drauf nehmen. Und ich wäre wieder mit meiner Freundin zusammen.«
»Dann hängt es nur davon ab, wo man ist?«, protestierte sie.
»Wo man sich entscheidet zu sein«, korrigierte er.
Paul spielte den Gentleman und genoß zugleich den Anblick der geröteten Haut an ihrem Hals, ihrer kleinen blassen Füße, ihrer schmalen Finger mit den abgekauten Nägeln, mit denen sie ihr Handy umklammerte in der Hoffnung auf eine Nachricht von ihrem Freund.
»Wo wir gerade von der Wahl des Aufenthaltsortes sprechen«, sagte er, »wenn du müde bist, können wir uns auf das große Bett legen. Ich werde dich nicht anrühren, versprochen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du traust mir nicht«, sagte er grinsend.
»Vielleicht traue ich mir selber nicht.«
Von diesen Worten ermutigt, wurde Paul ernst. Es war eine Weile her, seit er zum letzten Mal die ganze Nacht aufgeblieben war. Vielleicht ändert sich die Persönlichkeit in den frühen Morgenstunden. Oder vielleicht hatte er ja gar keine Persönlichkeit. Albert James, fing er an, ihr zu erklären, war der Ansicht, wir könnten uns selber nur im Zusammenhang mit den Kommunikationssystemen verstehen, in die wir eingebunden sind. »Das ist eine pessimistische Sichtweise, aber sie enthält auch einen Hinweis auf einen möglichen Ausweg: Wenn man ganz plötzlich sein Verhalten ändert, dann wird das System offensichtlich, die anderen Leute in ihm sind verwirrt, und die sich selbst erhaltende Maschinerie klemmt unvermittelt. Falls du mir folgen kannst.«
Elaine schüttelte den Kopf. Was Johns Vater betraf, hatte sie gar nichts verstanden, sagte sie. Paul sprang auf, ging zum Regal und zog ein paar Bücher heraus. Er war echt begeistert und spürte zugleich ein heftiges Bedürfnis, dem Mädchen körperlich nah zu sein, ihre Haut zu riechen.
»Siehst du, er hat auf allem, was er gelesen hat, Notizen gemacht.«
Er setzte sich neben sie aufs Sofa und schlug ein dickes Buch auf. Sie betrachtete das Gekritzel am Rand und konnte etwas entziffern: »Versöhnung ist immer spektral.« Was um alles in der Welt sollte das heißen? In dem Buch ging es um die Teilung Indiens. Immer noch kopfschüttelnd sagte sie: »John hielt ihn für ein Genie.«
»Das war er zweifellos.«
»Aber er meinte auch, er habe sein Talent weggeworfen, weil er sich keiner richtigen Forschungsgruppe angeschlossen hat.«
An den Rand einer Seite, auf der von den Verhandlungen die Rede war, die zu Indiens Unabhängigkeit führten, hatte James geschrieben: »Syntax und Semantik lösen sich in Betrachtungen auf.«
Elaine musste das Buch drehen, um die Schrift zu lesen, die sich um ein Foto von Nehru herumwand. »Die lebhafte Todessehnsucht der Kunst …«
»Na ja, ich hoffe, wenigstens er wusste, was er meinte«, sagte sie seufzend.
Dann schürzte sie die Lippen zu einem Lächeln, das verschroben oder auch sarkastisch gewesen sein könnte:
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