Traeume von Fluessen und Meeren
sie an. Der Mann war ein Junge, ein Halbwüchsiger, ein Fremder, schrecklich dünn, kein bisschen attraktiv. Jeden Augenblick werden sie sich aufsetzen, sich die Augen reiben und sich schämen.
John starrte sie mit gerunzelter Stirn an. Man legt sich nicht nackt neben seinen Sohn, murmelte er. Er hatte keine Erinnerung an körperliche Nähe zu seiner Mutter, keine Erinnerung an den Geruch von Umarmungen vor dem Schlafengehen. Hinter dem Kopfkissen auf dem Fußboden lagen zwei Spritzen. Seine Gedanken wechselten zwischen deutlich und undeutlich.
John will immer noch nicht verstehen, aber sehr bald wird es unmöglich werden, nicht zu verstehen. Das spürt er. Er spürt die bevorstehende Krise. Der Junge trug Shorts. Er war klapperdürr. Seine zerbrechlichen Arme lagen zu beiden Seiten seines Körpers, aber ihre Arme umschlangen ihn und die beiden Köpfe lagen aneinandergepresst auf dem Kopfkissen. John raufte sich die Haare. Ihre Körper bilden einen Knoten, den er nicht lösen kann.
Jemand klopfte an die Tür. John rührte sich nicht. Der Knauf drehte sich und jemand drückte. Es war abgeschlossen.
»Bitte Ma’am! Ich bringe Ihnen Chai.«
Er muss ihr Gesicht sehen. Wieder kniete sich John neben sie. Er legte eine Hand auf ihre Schulter. Er muss die beiden auseinanderziehen. Die kalte Haut lässt ihn erschaudern. Sie war wieWachs. Die Arme waren verkrampft, klamm und steif. Jetzt weiß er, dass es kein Schlaf ist. Ganz unvermittelt packte er ihr Haar und zerrte daran. »Mum, verdammt noch mal!«
»Sir!«, rief eine Stimme von draußen.
Der Kopf fiel zurück, und der Körper wurde halb herumgedreht. Die Augen seiner Mutter waren offen, glasig, der Mund zu einem spöttischen Lächeln verzogen. Sofort ließ er los. Aber der Körper blieb, wo er war. Ihre Brüste, dachte er. Er sah die Brüste seiner Mutter. Er hatte den Leichnam seines Vaters sehen wollen, nicht den seiner Mutter. Es waren runde, feste Brüste. Sie waren kein bisschen alt. Die Brustwarzen sind deutlich zu sehen. Sie lacht mich aus. John hörte seine Mutter lachen. Er hörte es, ganz deutlich. Ein gurgelndes Lachen drang aus ihrem Mund, zusammen mit einem Rinnsal grauer Flüssigkeit. Im Bruchteil einer Sekunde begriff er; er sah alles so klar wie bei einem perfekten Experiment, und ehe er sich’s versah, hatte er sie geohrfeigt. Er schlug seiner Mutter ins Gesicht. »Verdammt noch mal!«
»Sir, Madam!« Es war jetzt nicht mehr nur eine Stimme. Am Türknauf wurde heftig gerüttelt. John hatte keine Ahnung, was er brüllte, er wusste nur, dass seine Arme wie wild um sich schlugen und seine Hände schmerzten.
32
Paul erwachte aus einem lebhaften Traum. Es kam ihm so vor, als sei er gerade erst eingeschlafen. Ein Telefon schellte gellend. Paul träumt nie, er ist sogar stolz darauf, dass er nicht träumt. Er hatte im Bett gelegen, in Boston, mit seiner zweiten Frau und ihrem kleinen Baby, als eine Stimme ihn rief. Er hatte die Decke zur Seite geschlagen und war nach unten gegangen, barfuß, lauschend. Paul! Es war eine Männerstimme gewesen. Als er die Treppe hinunterging, hatte das Baby angefangen zu weinen. Er hörte, wie seine Frau tröstende Worte murmelte. Paul stieg Stockwerk um Stockwerk nach unten. Er war nackt. Er würde nie unten ankommen. Das dünne Babywimmern und die sanfte Frauenstimme entfernten sich mehr und mehr. Die Stufen vor ihm waren jetzt dunkler, dunkler und schmaler, und führten immer weiter abwärts. Seine molligen Oberschenkel schabten auf beiden Seiten an den Wänden entlang. Paul wusste, das war nicht mehr sein Haus. Wie konnte das sein? Dann traten seine Füße platschend in Wasser, und er spürte Wind an seinen Wangen. Ein Fluss verlief tief durch den Stein, und wieder rief ihn in der Dunkelheit eine Stimme.
Paul!
Das Telefon klingelte. Paul setzte sich auf und schaute auf seine Armbanduhr. 7.25. Er hatte tatsächlich nur ein paar Minuten geschlafen, nur solange der Traum währte vielleicht. Wie lange dauern Träume? Aufgeregt wartete er, dass der Anrufer aufgab. Helen würde bestimmt nicht um diese Zeit anrufen. Erbrauchte Schlaf nach der langen, dummen Nacht. In meinem Alter. Aber das Schellen ging weiter. Paul schleppte sich ins Wohnzimmer.
»Hallo?«
»Hallo. Hallo. Wer ist da?«
»Paul Roberts am Apparat. Ich fürchte, Helen –«
»Sie sind ein Verwandter von Dr. Helen James?«
»Wer spricht dort?«
»Hier ist die Polizei. Polizei von Delhi. Sind Sie ein Verwandter von Dr. Helen James?«
»Ich bin ein
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