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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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Er brauchte mich ständig in seiner Nähe. Ich meine, er ist damals ungefähr sechs Monate lang nicht ans Telefon gegangen. Hat kaum das Haus verlassen.«
    »Verstehe«, sagte John. Wieder hatte er das seltsame Gefühl, dass seine Mutter schwer zu fassen war. Er wünschte, sie würde stillhalten.
    »Dann sind wir hierhergezogen, und die Arbeit deines Vaters bekam wieder eine neue Richtung. Es war ein sehr radikaler Bruch.«
    John sagte nichts. Die Arbeit seines Vaters war immer von einem großen Geheimnis umgeben gewesen. Aber was hatte der Mann je entdeckt oder geschaffen? Nichts.
    »Natürlich«, fügte Helen jetzt sehr munter hinzu, während sie ihren auf dem Sofa ausgestreckten Sohn betrachtete, »wird jede Biografie von Dad in gewissem Maße auch eine Familienbiografie sein.«
    John ließ seine Fingerknöchel knacken. »Meinst du?«
    »Höchstwahrscheinlich wird der Mann dich auch befragen wollen.«
    »Kein Problem. Ich werde ihm einfach erzählen, wie es war. Im Grunde war ich die meiste Zeit weg, in der Schule. Ich weiß gar nichts.«
    »Nicht in den Ferien.«
    »Zwei Drittel des Jahres waren aber keine Ferien.«
    »Wir haben geschrieben.«
    »Der Typ dürfte sich kaum für die Art von Briefen interessieren, wie Dad sie mir geschrieben hat. Ich habe sie sowieso alle weggeworfen.«
    »Und in der letzten Zeit?«, fragte Helen James.
    John runzelte die Stirn. »Er hat mir seit Jahren nicht geschrieben. Auch keine E-Mails.«
    »Nein?«
    »Nein.«
    Sie seufzte. »Vermutlich nervt es mich einfach, wie viel diese ganzen Leute über unser Privatleben wissen wollen.«
    »Welche Leute?«
    »Na ja, dieser Biograf zum Beispiel.«
    John wurde plötzlich ärgerlich. »Was für ein Privatleben? Ich kann mich eigentlich an nichts Privates erinnern.«
    »Jetzt wirst du schon wieder feindselig, John.«
    »Ich bin nicht feindselig. Ich verstehe dich nur nicht. Hat Dad je etwas anderes gemacht, als zu arbeiten? Oder du? Du warst doch ständig hinter irgendeinem Medikament her, weil irgendwo ein Kind im Sterben lag.«
    Helen James gab klein bei. »Okay, wahrscheinlich bin ich nur ein bisschen vorsichtig, das ist alles. Der Mann möchte, dass ich unseren Freunden sage, ob sie mit ihm reden dürfen.«
    »Das Entscheidende«, sagte John, »ist vermutlich, ob du ihm Dads Aufzeichnungen zeigst oder nicht.«
    »Da spricht für mich nichts dagegen«, sagte Helen. »Sofern ich sie vorher durchgesehen habe.«
    »Na siehst du. Das sollte doch wohl genügen. Sie zu sortieren wird schon eine Ewigkeit dauern.«
    Sie lächelte. Dann lehnte sie sich zurück. »Du hast recht«, sagte sie. »Du hast recht. Danke. Manchmal braucht man jemanden von außen, der das Offensichtliche ausspricht.«
    Der Junge konnte sich nicht erinnern, dass seine Mutter je so auf ihn reagiert hatte. Er war hocherfreut. »Warum hast du mir nicht gesagt«, fragte er sanft, »dass ich den Fluss sehen werde, in den du Dads Asche streuen willst?«
    »Ach so.« Sie lächelte. »Du hast nicht gefragt, John. Du stellst nie Fragen.«
    Ihre Stimme zitterte leicht. Sofort stand er auf und wollte sie umarmen, aber sie senkte den Kopf und vergrub das Kinn in ihrer Brust. Sie streckte nur eine Hand nach ihm aus und ergriff seine. »Ich kann nicht fassen, dass er nicht mehr da ist, John«, murmelte sie. »Ich kann es einfach nicht fassen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wer ich bin, wie ich leben soll.«

    Etwas später, in seinem Zimmer, tippte John eine Nachricht in sein Telefon: »Ellie, es muss verrückt klingen, so aus heiterem Himmel, aber willst du mich heiraten? Mir ist klar geworden, dass ich dich liebe. Wirklich. Bitte werde meine Frau. Lass uns heiraten und glücklich werden.«
    Das kleine Display leuchtete. Er las die Nachricht noch einmal sorgfältig durch. Waren das die richtigen Worte? Er konnte sich nicht entschließen, ob er die Nachricht abschicken sollte oder nicht.
    Aufgeregt lief John in dem kleinen Zimmer hin und her. Wenn er stehen blieb, hörte er, wie seine Mutter ebenfalls in ihrem Zimmer umherlief, dem Zimmer, in dem Dad gestorben war. Warum hat mir niemand vor dem Ende Bescheid gesagt?Du hast nicht gefragt, John, würde sie antworten. Sollte er Elaine fragen? Es fiel ihm schwer, Worte zu finden, die nicht banal und abgedroschen klangen.
    John zog ein Buch aus dem Wandregal. Seine ganze Kindheit hindurch waren die Zimmer mit den Büchern tapeziert gewesen, die Dad geschrieben oder gelesen hatte. Das hier stammte von einem Mann namens Aby Warburg: Das

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