Traeume von Fluessen und Meeren
Küche und nahm sich eine Cola aus dem Kühlschrank.
»Was liest du da?«, fragte er, als er zurückkam. Er setzte sich nicht hin.
»Alte Sachen«, gab sie zurück.
»Erzähl mir davon.« Er drehte die Dose zwischen den Fingern und leckte die Tropfen am Rand ab.
»Ach, das interessiert dich bestimmt nicht.«
»Mag sein, aber was ist es?«
Sie seufzte, immer noch lesend. »Nur altes Zeug.«
John machte zwei Schritte und knallte die Coladose neben ihr auf den Tisch. »Erzähl es mir, verdammt noch mal!« Das Getränk spritzte über die hölzerne Platte.
»John!« Helen James schreckte auf. Sie schob ihren Stuhl zurück und griff nach einer Packung Papiertaschentücher. Kopfschüttelnd wich er ein, zwei Schritte zurück.
»Tut mir leid«, sagte er und setzte sich aufs Sofa.
»John, was um alles in der Welt sollte das? Es sind bloß alte, unveröffentlichte Texte von deinem Vater, mit denen ich dich nicht langweilen will.« Sie zögerte. »Nachdem dich die Ausflüge schon so gelangweilt haben …«
Ihr Sohn hatte das Gesicht in den Händen vergraben. »Mir ist schlecht«, sagte er.
Helen James wartete. Sie schien unentschlossen, ob sie ihre Lesebrille wieder aufsetzen sollte oder nicht. »Ich hoffe, du warst vorsichtig mit dem Essen«, sagte sie in ruhigerem Tonfall.
»Natürlich. Ich fühle mich schon komisch, seit ich angekommen bin.«
»In welcher Hinsicht?«
Er versuchte nachzudenken. »Im Kopf.«
»Du solltest nicht direkt aus der Dose trinken«, sagte sie. »Man weiß nie, wo die gelagert worden sind. Wir haben viel mehr Fälle von Leptospirose, seit die Leute sich angewöhnt haben, aus Dosen zu trinken.«
Als John jetzt hochschaute, hatte er den seltsamen Eindruck, als würde seine Mutter vor seinen Augen abwechselnd älter und jünger; wie ein Licht, das trübe und dann wieder hell wird. Zuerst war sie alt. Ihre wässrigen Augen waren von einem Netz aus Falten umgeben. Er musste sich um sie kümmern. Dann war sie plötzlich wieder jung. Mum ist noch so jung, dachte er. Er schüttelte den Kopf. Begehrenswert. Sie setzte ihre Brille auf und beugte sich wieder über die Papiere.
John wartete ein bisschen, dann sagte er leise: »Mum, ich werde nicht bei meiner Großmutter um Geld betteln.«
Sie holte tief Luft. »Du brauchtest wohl kaum so schnell aus Agra wiederzukommen, nur um dieses Thema wieder aufs Tapet zu bringen.«
»Ich finde, du solltest mit ihr reden. Sie ist schließlich deine Mutter.«
Helen seufzte. »John, du bist jetzt vierundzwanzig. Du bist erwachsen. Du bist derjenige, der in England lebt, und du bist derjenige, der das Geld braucht. Hinzu kommt, dass meine Mutter kleine Jungs immer lieber mochte als kleine Mädchen. Meinen Bruder lieber als mich. Dich lieber als ihre Enkelinnen.«
»Aber …«
John hielt inne. Die Wut von eben hatte ihm alle Kraft geraubt. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen dachte er: Ich muss Elaine heiraten.
»Worum geht es denn in dieser Arbeit von Dad?«, fragte er vorsichtig. »Um die Sache mit den Spinnen?«
»Nein, nicht darum. Das hier ist etwas, das er vor langer Zeit gemacht hat. Es geht um Sex, wenn du es genau wissen willst.«
»Die Symmetrie des Sex«, sagte John lachend.
»Jetzt werde nicht fies, John!« Helen James lächelte nachsichtig. »Es ist doch klar, dass jeder, der etwas Substanzielles über Kommunikation sagen will, auch über Sex reden muss.«
»Und über Spinnennetze.«
»John, das größte Kommunikationssystem der Welt wird Netz genannt. Du weißt doch, dein Vater hat sich den Dingen von unterschiedlichen Seiten genähert.«
Wieder hatte John den Eindruck, dass seine Mutter eine junge Frau im Körper einer alten war. Sie machte sich über ihn lustig. Oder eine alte im Körper einer jungen. Mal war ihre Haut fleckig und schlaff, dann lächelte sie, und ihre Haut wirkteplötzlich straff und fest. Er nahm sich vor, Elaine eine SMS zu schicken, sobald er wieder in seinem Zimmer war. Willst du mich heiraten? Noch heute Abend wollte er ihr einen Antrag machen.
»In dieser Arbeit geht es um die metakommunikativen Signale, die von Parfums ausgehen; wie sie die natürlichen Pheromone imitieren oder überdecken.«
»Klingt interessant«, sagte John gedankenlos.
»Was Albert beschäftigt hat, war der Moment, wenn das künstlich erzeugte metakommunikative Signal, das typisch ist für die westliche Kosmetik, einen Beziehungskontext herstellt, der den direkteren Botschaften von Gestik oder Sprache zuwiderläuft und dadurch beim
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