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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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zurückgezogen hatte, waren sie jeder ihren eigenen Weg weitergegangen. Helen wurde weiterhin berührt von Leid und Ungerechtigkeit, sah sich selber am klarsten in den Augen eines fiebernden Kindes gespiegelt oder in ihrer Wut angesichts einer rituellen Verstümmelung oder eines unsinnigen Tabus, aufgrund dessen ein Mann sterbend am Straßenrand liegen gelassen wurde. In solchen Situationen war sie wieder die rebellische Tochter, die gegen selbstsüchtige Eltern oder ihren herzlosen, opportunistischen Bruder kämpfte. Albert hingegen hatte die Vorstellung von einer Welt entwickelt, in der alles im Gleichgewicht war, ein magisches, sich selbst korrigierendes System von individuellen Impulsen und kollektivem Feedback. »Die Katastrophen, die sich im Laufe unseres Lebens ereignen, stellen nur einen winzigen Teil des rhythmischen Pulses des Universums dar«, schrieb er. An schlechten Tagen fürchtete er allerdings, die Welt könne jeden Augenblick untergehen, weil die Menschheit sich selbst zerstörte und er, Albert James, nichts getan hatte, um den Untergang zu verhindern.
    Sie steckte die Dose mit der Asche in eine Plastiktüte und legte sich gerade ein Schultertuch um, als die Tochter und die halbwüchsige Enkelin des Hausmädchens eintrafen, um die Wäsche abzuholen. Die älteren Frauen plauderten auf Hindi, während sie mit schnellen, symmetrischen Bewegungen die Lakenzusammenlegten. Sie trugen farbenfrohe Saris und waren offensichtlich sehr vertraut miteinander. Das Mädchen jedoch saß still am Wohnzimmertisch und schaute sich mit großen Augen unruhig und neugierig um.
    »Ihr Sohn ist nicht sehr lange geblieben, Mrs. James?«, fragte sie höflich. Sie war zierlich, hatte dunklere Haut als ihre Mutter, trug das schwarze Haar straff zurückgebunden, was ihre hohen Wangenknochen betonte, und hatte ein leuchtendes Bindi auf der Stirn. Beim Sprechen bemerkte das Mädchen die tiefe Delle in der Tischplatte und strich mit den Fingerspitzen über das abgesplitterte Holz.
    »Ja, schade, dass du ihn nicht kennengelernt hast«, sagte Helen. »Er musste zurück, wegen seiner Arbeit.«
    Das Mädchen wandte sich ab, und ihre Mutter durchquerte eilig mit dem kleinen Wäschebündel das Zimmer. Ohne Albert war weniger zu tun. »Vimala hat großes Glück«, sagte sie. »Wir haben Ihnen frohe Nachrichten zu erzählen, Mrs. James!«
    Ein Schatten zog über das Gesicht des Mädchens.
    »Sie wird heiraten!«, verkündete die Waschfrau. »Ach, was für ein Glück«, sagte die Großmutter, die hinter ihrer Tochter herlief. Sie klatschte in die Hände. »Es ist eine gute Familie. Er ist ein guter Junge, und die Familie ist auch gut. Wir kennen sie – sie kommen aus unserem Umfeld. Sind auch im Wäschegeschäft.«
    Das Mädchen lächelte gezwungen, aber kurz darauf drehte sie sich abrupt in der Tür um und schaute der Engländerin direkt in die Augen. »Es tut mir leid wegen Mr. Albert«, sagte sie.
    Ehe Helen die Intensität des Blickes ganz erfassen konnte, waren Mutter und Tochter bereits verschwunden. Sie hörte das Klappern ihrer Sandalen auf der Betontreppe. Die Großmutter ging summend zurück in die Küche.
    »Freut sich Vimala über ihren zukünftigen Mann?«, fragte Helen.
    »Warum nicht?«, sagte Lochana grinsend. »Nichts ist schöner für ein Mädchen, als zu heiraten.«

    »Albert«, murmelte Helen, als sie auf die Straße trat. »Dies ist unser letzter Spaziergang. Genießen wir ihn.«
    Es wäre vernünftig gewesen, ein Taxi zu nehmen. In Delhi geht man nicht zu Fuß. Helen jedoch ging einfach los, in der Hand die baumelnde Tüte. Der Tag war ruhig, und es wurde langsam wärmer. Die kalte Jahreszeit war vorbei. Sie erreichte die Hoshir Singh Road und überquerte dann die Lodhi Road. Autorikschas drosselten neben ihr das Tempo, aber sie schüttelte den Kopf. Vimala war auf die St.-Annen-Schule gegangen, fiel ihr jetzt ein, an der Albert unterrichtet hatte. Statt Lochana zu bezahlen, hatten sie das Schulgeld für das Mädchen übernommen. »Es war unlogisch von dir, zu unterrichten«, murmelte sie, »irrational, ein Mädchen bei der Ausbildung zu unterstützen, wenn du nicht an Einmischung glaubst.« Sie erinnerte sich an das Schulmädchen, das im Krematorium geweint hatte, zweifellos ein Mädchen, das Alberts seltsame Vorträge gehört hatte, bei denen er zum Beispiel einen toten Seestern hochhielt – »Wenn ihr so einen noch nie gesehen hättet, woher wüsstet ihr dann trotzdem, dass er mal lebendig war?« »Es gibt

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