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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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Schlangenritual . John überflog ein paar Seiten. Das Buch enthielt ein paar Schwarz-Weiß-Fotos von Naturvölkern, die in Tierhäute und Federschmuck gekleidet waren, sowie Drucke von kindlichen Zeichnungen, auf denen Blitze über den Bergen so dargestellt waren, als seien es zuckende Schlangen, die aus tief hängenden Wolken kommen. Mit einem dicken Bleistift hatte sein Vater, fest aufdrückend und wackelig, den Satz: »Wo ratloses Menschenleid nach Erlösung sucht, ist die Schlange als erklärende bildhafte Ursache in der Nähe zu finden« unterstrichen.
    Der Junge lag auf dem Bett und konnte nicht einschlafen. Seine Hände kamen nicht zur Ruhe. Er zwang sich, an London zu denken, an sein Labor. In ihrer Arbeit erforschten sie Möglichkeiten, die RNA eines inaktiven Tuberkelbakteriums zu deaktivieren, die Ribosomen durch eine List zu einem untypischen Verhalten zu bringen, damit die Krankheit sich nicht weiter ausbreiten konnte. Sollte er die Nachricht an Elaine schicken oder nicht? Seine Mutter lief weiterhin im anderen Zimmer hin und her. John dachte daran, wie seltsam sie ihm an diesem Abend vorgekommen war, wie sie abwechselnd strahlend und farblos wirkte.
    Schick sie ab! Er griff nach dem Telefon und drückte die entsprechenden Tasten. Dann schaute er zu, wie der kleine Briefumschlag über das erleuchtete Display flatterte. Weg ist sie! Er war ausgesprochen zufrieden mit sich. Ja! Er stand auf, um seiner Mutter zu sagen, Mum, ich habe ihr einen Antrag gemacht! Aber dann hielt er inne. Warte lieber auf Elaines Antwort.Mutter hatte sich immer darüber lustig gemacht, wenn seine Freundinnen ihn verließen, so als sei er geradezu prädestiniert dafür, kein Glück bei den Frauen zu haben. Wie spät war es in England? Früher Abend. Er ging wieder ins Bett. Das Telefon würde auf der Holzplatte des Nachttisches vibrieren. Davon würde er aufwachen. Die drei Elefanten standen auch dort, einer im Bauch des anderen. Sie würden klappern. Er hatte den Schritt gewagt.
    John lag im Dunkeln und wartete. Dad hatte als Biologe angefangen. Was hatte ihn vom Weg abgebracht? Seine Abschlussnoten waren hervorragend gewesen, ebenso seine Dissertation. Er hatte gute Forschungsarbeit über Amöben geleistet. Anscheinend. »Wenn wir den Ursprung des Lebens erklären wollen« – Professor Wilsons Vorlesungen kamen ihm in den Sinn –, »ist die schwierigste Frage nicht die, ob irgendeine zufällige Kollision zwischen Elektrizität und einer chemischen Substanz lebende Zellen hervorgebracht haben könnte. Wir wissen, dass das möglich ist. Das echte Geheimnis liegt in dem Moment, wenn die RNA anfängt sich zu verdoppeln und das zufällig entstandene Etwas sich reproduziert . Wer weiß, wie viele Millionen primitiver Zellen gelebt haben und gestorben sind, ehe eine von ihnen das Leben über die Zeit fortsetzte, in Gestalt einer Spezies, eines Generationenmusters? Vielleicht finden wir darin eine Reihe von Angriffspunkten, um die Zellen, die wir zerstören wollen, zu treffen, ihnen mitzuteilen, dass sie nur ein Einzelnes sind, dass ein Leben genug ist. Dann können wir das Individuum leben lassen, so lange es will. Das Muster ist durchbrochen, und nichts kann passieren.«
    John hatte nie Schwierigkeiten einzuschlafen. Normalerweise nicht. Er bewunderte Professor Wilson, obwohl Konzept und Experiment bei ihm weit auseinanderlagen. Komisch, dass Elaine auf eine so wichtige Nachricht nicht gleich antwortete, dachte er. Sie hatte ihr Telefon immer in Reichweite. Ihre erste
    Reaktion wird eine witzige Entdramatisierung sein, schätzte er. Aber keine Frage, Elaine war die richtige Frau.
    John knipste die Nachttischlampe an und griff nach Das Schlangenritual . »Geschrieben in der Nervenheilanstalt«, so begann das Vorwort, »als eine Form der Buße …« John schüttelte den Kopf. An den Rand hatte sein Vater geschrieben: »Die Ekstase der Niederlage und die finale Verbeugung!« Es war merkwürdig, dass sein Vater Dinge niederschrieb, die mit dem, was er las, nichts zu tun hatten. Unter einer der Schlangenzeichnungen stand: »Keine Chemie, kein Wissen.« Das Telefon schnarrte so laut, dass John erschrocken hochfuhr.
    »Echt süß von dir, Jo, aber im moment keine so gute idee. Hier passiert alles mögliche! Große party. Bis morgen, mein schatz. Guten flug. Küsse. E.«
    Irgendwann in der Nacht stand John auf, nahm die drei Elefanten, ging damit durchs Wohnzimmer, öffnete die Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter und ging an ihr Bett. Ihr

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