Traeume von Fluessen und Meeren
Atem war rhythmisch, mit einem leichten Schnarchen beim Einatmen. Das steinerne Objekt lag schwer in seiner Hand, als er den Arm hob. Die beiden kleineren Tiere im Inneren des Großen bewegten sich leicht.
»Albert«, murmelte seine Mutter. Sie schien seine Anwesenheit gespürt zu haben. »O Albert!«
Helen setzte sich abrupt auf. John drehte sich um, rannte zurück ins Wohnzimmer und knallte die Elefanten auf die hölzerne Tischplatte.
ZWEITER TEIL
Träume von Flüssen und Meeren
8
Alle dachten, sie würde nach Allahabad fahren, um seine Asche in die Yamuna zu streuen, oder sogar zum Yamunotri-Tempel. Oder wenigstens nach Agra, zu den breiten Sandbänken unterhalb des Taj Mahal. Sie kannten Albert nicht. »In die Yamuna in Delhi «, hatte er gesagt. Ihrem armen Sohn war noch nicht mal klar gewesen, dass die Yamuna auch durch Delhi floss. »Mitten in der Stadt«, beharrte er, »zu dem ganzen anderen Müll. Oder von der Wazi-Brücke, wenn du willst. Bitte nicht bei den Ghats. Und auch nicht dort, wo die Waschfrauen arbeiten.« Er möchte nicht, sagte er lachend, als Fleck auf dem gestärkten Hemd irgendeines Bürohengstes wiederauftauchen.
»Deine Asche wird das Sauberste im ganzen Fluss sein«, hatte Helen entgegnet. »Die Yamuna ist die reinste Kloake.«
»Dann soll es so sein«, sagte er lächelnd.
Jetzt kam es ihr seltsam vor, dass sie diese Gespräche geführt hatten. Dreißig gemeinsame Jahre waren zu Ende. »Ich wünschte nur, man könnte es schön beenden«, hatte er gesagt. Sie hatte ihm hundert Mal erklärt, dass er verrückt war, dass er kämpfen musste. Aber Albert war fest entschlossen gewesen. »Ehe es zu spät ist«, sagte er. Das hatte er wohl ein Dutzend Mal gesagt: »Ehe es zu spät ist.«
Jetzt bewahrte Helen seine Asche schon seit zwei Wochen in der Wohnung auf; immer wieder hatte sie den Gang zum Fluss aufgeschoben. Die Überreste ihres Mannes waren ihr in einer Plastikdose überreicht worden, die den Dosen ähnelte, in denenin Amerika Eiscreme verkauft wurde. Und es stellte sich heraus, dass die Leute vom Krematorium Albert gut gekannt hatten. Er war oft hingegangen, um bei Einäscherungen die Trauernden zu beobachten, ähnlich wie er zu Hochzeiten, an die Börse, in verschiedene Tempel, zu Kricket-Turnieren, in Zoos und Wildparks ging. Er hatte um Erlaubnis gebeten, Videoaufnahmen zu machen. Sie waren für die neue Ausgabe von Gesten gedacht gewesen. Niemand verstand die Botschaften, die Menschen aussandten, so gut wie Albert. Auch nicht die tausend Möglichkeiten, eine Botschaft falsch zu verstehen. »In jeder Bewegung und jeder Geste liegt etwas, das über das Notwendige hinausgeht«, sagte er. »Die ästhetische Aura.«
»War es ein schwerer Tod, Madam?«, hatte sich die Dame im Krematorium freundlich erkundigt. Ein langes Formular musste ausgefüllt werden. Helen hatte sie um einen Stift gebeten. »Mein Mann hat immer gesagt, der Tod ist nur für die Lebenden schwer«, antwortete sie.
Zwei Wochen lang stand die Asche auf dem Tisch. Die kleine Plastikdose bedeckte genau die Stelle, auf die John sein hässliches Souvenir geknallt hatte. Warum hatte er das getan? Der Schaden an der Tischplatte war ihr egal, aber das Benehmen ihres Sohnes hatte sie erschreckt. Die halbe Nacht hatte der Junge zitternd auf dem Sofa gesessen und immer wieder erklärt, er fühle sich krank, obwohl er das ganz offensichtlich nicht war; John hatte keine Ahnung, was Krankheit bedeutete. Sie war so froh gewesen, als er endlich weg war.
Jetzt machte Helen James sich die Erwartungen der anderen zunutze und erklärte, sie werde zwei Tage nicht in die Klinik kommen, um eine Zeremonie zu vollführen, die in Wirklichkeit nicht länger als ein paar Minuten dauern würde. Wann hatte sie das letzte Mal zwei Tage freigenommen? Ihr Leben lang hatten sie und Albert in Ländern gelebt, in denen Sakramenten und Zeremonien die größte Bedeutung beigemessen wurde. Siewaren in die Dritte Welt gegangen, um die Armut zu lindern, aber dann hatte Albert angefangen, die Rituale der Menschen zu studieren, und die Armut einfach akzeptiert. Sie hatte das Gefühl, dass er sie wirklich akzeptierte. Das Gesamtbild einer Gesellschaft, so behauptete er im Vorwort zu Gesten , hing immer davon ab, wie man dort betete, liebte und tötete; aber Helen und Albert hatten keine eigenen Zeremonien gehabt. Sie hatten nicht gebetet, und ans Töten hätten sie nicht mal im Traum gedacht.
Dann, nachdem er sich aus der medizinischen Arbeit
Weitere Kostenlose Bücher