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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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rasend, dass es soschwierig war, zum Flussufer zu gelangen. Ständig musste man zurück auf die Hauptstraße. Ich brauche bloß eine ruhige Stelle, dachte sie, wo ich für mich sein kann. Wir waren als Paar immer sehr für uns. Einen knappen Kilometer weiter zögerte sie am Eingang des Gebiets, wo die Hindi ihre Toten verbrannten. Sie war schon hier gewesen, wenn einer ihrer Patienten gestorben war. Sie hatte die Scheiterhaufen gesehen, den Rauch, die schmuddelige Alltäglichkeit der Vernichtung des Leichnams. »Ich werde deine Asche nicht mit ihrer vermischen«, flüsterte sie.
    Ein bisschen später betrat sie das Areal eines kleinen Sikh-Tempels und ging durch die parkenden Autos hindurch, bis sie den Fluss erreichte. Ein Junge badete. Drei, vier Frauen standen im Wasser und wuschen Kleidungsstücke. Die Stadt hinter ihr war von einem schmutzigen Dunstschleier verhüllt. Mein Leben ist vorbei, dachte sie. Sie hatte es genossen, bei der Bestattung einen Schleier zu tragen. Vielleicht konnte ich nur ordentlich arbeiten, solange Albert da war und mir gesagt hat, es sei nicht das Richtige. »Es ist das Einzige, was ich kann«, hatte sie entgegnet. »Tu es«, hatte er geflüstert. »Bitte, Helen, tu es jetzt, heute Abend!« Sie kehrte um und ging zur Straße zurück. Dies war nicht der richtige Ort.
    Kurz vor der Wazi-Brücke entdeckte sie einen Pfad, der sich zwischen Erdhügeln, Gras und schiefen Bäumen entlangwand. Hier und da hockten Männer unter Zeltplanen; die Frauen trugen Körbe und Säcke. Auf einer kleinen Lichtung stand ein kleiner, mit rotem und blauem Glitzerzeug geschmückter Schrein, in dem irgendeinem Gott grellbunte Süßigkeiten und Kuchenstücke geopfert wurden.
    Der Fluss war noch hundert Meter entfernt, als sie auf ein kleines Denkmal stieß, eine einzelne Sandsteinplatte, zum Gedenken, so verriet die Inschrift, an eine Gruppe von Schulkindern, die bei einem Busunfall ums Leben gekommen waren. Helen erinnerte sich dunkel daran, einmal in der Zeitung gelesenzu haben, dass dieses Denkmal zerstört und verschandelt worden war. Sie blieb stehen. Jemand hatte darauf geschissen. Das Gras drum herum war hell und trocken; es wartete auf Regen. »Achtundzwanzig Schulkinder«, las sie auf Hindi. Ihr Bus hatte das Brückengeländer durchbrochen und war in den Fluss gestürzt. Vor acht Jahren.
    Sie drehte sich um. Die Wazirabad-Brücke führte die innere Ringstraße über die Yamuna. Der Verkehr war dicht. Sie setzte sich auf den zerbrochenen Gedenkstein. Irgendwo schlug eine Trommel. In dem Artikel in der Times of India , erinnerte sie sich, wurde bedauert, dass der Stein so übel geschändet worden war, dass die Eltern gezwungen waren, das jährliche Havan unter der Brücke am Flussufer abzuhalten.
    Helen schüttelte den Kopf: Was für ein Wahnsinn, mit den Toten zu kommunizieren, dachte sie, Sterbetage zu zelebrieren. Was für ein Wahnsinn, an Seelen zu glauben und kleine Lichter anzuzünden, Weihrauch zu verbrennen und Teller voller Obst zu opfern, während man bis zur Taille im dreckigen Wasser angeblich heiliger Flüsse steht. Urplötzlich war die Witwe wütend auf sich selbst. »Du kannst nicht mehr mit Albert reden«, murmelte sie. »Die Toten sind tot«, sagte sie laut. »Er ist nicht mehr da. Alles, was du hier machst, ist falsch und dumm.«
    Mit einer Handbewegung, die sie sich vorher nicht hätte vorstellen können, griff sie in die Plastiktüte, zog die Dose heraus und wollte den Deckel hochziehen.
    Er ging nicht auf. Sie versuchte es noch einmal; diesmal schob sie die Fingernägel unter den Rand. Wie blöd. Sie hebelte. Der Deckel rührte sich nicht. Ist er vakuumverpackt? Wie seltsam. Und sie musste an Drei Mann in einem Boot und die Dose Ananas denken. »Albert!«, rief sie. Oder vielleicht waren es auch Pfirsiche gewesen. Albert hatte Drei Mann in einem Boo t toll gefunden. Oder Aprikosen. Alice im Wunderland hatte er auch toll gefunden. »Albert, hilf mir, dich rauszuholen!« In gewisserHinsicht war ihr Mann immer ein typischer Engländer geblieben.
    Jetzt lachte sie fast hysterisch. Schon wieder rede ich mit ihm! Ein Fingernagel bog sich schmerzhaft. Vielleicht sollte ich die Dose einfach auf den Gedenkstein für die Schulkinder stellen. Er hat immer gesagt, Kinder zu unterrichten sei sein größtes Vergnügen, obwohl er nie ein Kind haben wollte. »Kinder sind so wunderbar unfertig«, sagte er, »sie sind ein wunderbares Angebot.« Aber wenn sie die Asche nicht ausstreute, könnte jemand

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