Traeume von Fluessen und Meeren
sie an sich nehmen. Jemand könnte Albert wegtragen.
Sie besah sich die Dose genau. Wie war sie verschlossen worden? Sie war aus schlichtem weißem Kunststoff; der Deckel fügte sich in einen schmalen Rand ein. Sie stellte sie wieder auf den Gedenkstein, der halb mit Gras und toten Flechten überwuchert war. Darauf lag definitiv ein menschlicher Scheißhaufen. Albert würde sagen, dass Respekt und Vandalismus einander bedingten, der Gedenkstein und der Scheißhaufen waren Teil ein und desselben Musters. Dann stellte sie einen Fuß auf die Dose und verlagerte ihr Gewicht darauf. Sie gab nicht nach. Vorsichtig hob Helen ihren Körper an, bis sie tatsächlich darauf stand. Auf Albert. Nichts. Warum war die Dose so robust? Sie wippte ein bisschen auf und ab. Die Dose knackte laut. Helen schwankte und musste sich mit einer Hand abstützen, um nicht hinzufallen. Die Plastikdose war aufgebrochen, und da war er: körniger grauer Staub.
Helen ging weg. Sie war völlig aufgewühlt. Was mache ich hier? Am Flussufer blieb sie kurz stehen und schaute zu der stark befahrenen Brücke hoch, von der der Schulbus gestürzt war. Das Wasser glitt an ihr vorüber. Dann ging sie zurück und umkreiste in dem tiefen, trockenen Gras den Gedenkstein, während sie die Dose anschaute. Zwei, drei Mal lief sie um den Stein herum. Es war windstill. Ein bisschen von der körnigen Asche war verschüttet worden und lag ruhig auf der Steinplatte. Helen hocktesich hin und betrachtete sie. Sie hob mit beiden Händen die Dose hoch und schüttelte sie heftig über der Steinplatte. Die Asche ihres Mannes flog ihr ins Gesicht. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Lippen. Ein säuerlicher Geschmack.
»Bring den Kindern etwas bei, Albert«, murmelte sie.
Sie nahm ein Taxi zurück. Trotzdem dauerte es vierzig Minuten. Warum war sie seinen Anweisungen nicht gefolgt? Er war fasziniert gewesen vom Wasser. Er hatte etwas verstanden, sagte er, über die Beziehung zwischen Wasser und der Entstehung von Mustern. Er wollte weggespült werden. Die Vervollständigung eines Musters ist seine Auflösung, sagte er. Er war froh, dass die Yamuna ein schmutziger Fluss war. Dort wollte er hinein. Dann fiel ihr ein, dass sie weder die Plastiktüte noch die zerbrochene Dose bei sich hatte. Sie wusste nicht mehr, ob sie sich davon überzeugt hatte, dass sie vollständig entleert war. Jetzt habe ich den Müll in Delhi vermehrt, dachte sie. Irgendein kleiner Junge, der Müll zum Verkaufen sammelte, würde die Sachen aufheben.
Kaum war sie zu Hause, ging Helen zum Telefon und rief im Ashoka an.
»Ich fürchte, Mr. Roberts geht nicht an den Apparat, Madam.«
»Aber er ist in seinem Zimmer?«
»Ich fürchte, das weiß ich nicht, Madam. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?«
»Nein«, sagte Helen. »Oder doch. Doch. Bitte.« Sie zögerte. »Die Nachricht ist von Helen James. Ja, J-a-m-e-s.« Sie wartete, während der Mann schrieb. »Die Nachricht lautet: Ich werde Ihnen die Erlaubnis nicht erteilen.«
»Nicht erteilen«, wiederholte der Mann am Empfang.
»Die Erlaubnis nicht erteilen.«
9
»Lieber John …«
Er hatte den Brief bei seiner Rückkehr vorgefunden. Elaine hatte ihn in Heathrow abgeholt, war aber in Eile, sie musste zu einer Leseprobe. »Komm noch auf einen Kuss mit rauf«, beharrte er. Er nahm sie beim Arm. Es war später Nachmittag. Wir können uns lieben, dachte er. Er roch ihr Parfum. Seine Mitbewohner waren bei der Arbeit. Der Luftpostumschlag mit den indischen Briefmarken auf dem Tisch neben seinem Bett lenkte ihn ab. Er riss ihn auf.
»Lieber John, seit einiger Zeit …«
»Ich muss jetzt wirklich los«, sagte Elaine. Es waren mehrere handbeschriebene Seiten. »Der ist von Dad«, sagte er. Er setzte sich aufs Bett. Die ganze Fahrt von Heathrow hierher schienen sie auf den Vordersitzen des Autos weiter voneinander entfernt zu sein als vorher, als sie über achttausend Kilometer hinweg Handy-Nachrichten ausgetauscht hatten. »Das war süß von dir, zu schreiben, dass wir heiraten sollten«, hatte sie lachend gesagt und ihren elfenhaften Mund dabei verzogen. Parfum fand er immer erregend. Jetzt sagte sie: »Von deinem Vater? Wie merkwürdig!«
»Lieber John, seit einiger Zeit werde ich von Träumen geplagt, oder vielleicht sollte ich sagen gesegnet, Träumen von Flüssen und Meeren, Träumen vom Wasser.«
John schüttelte den Kopf. Was sollte das denn?
Das Mädchen stand in ihrer eng anliegenden weißen Bluse vor ihm und schaute mit zur Seite
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