Traeume von Fluessen und Meeren
Sachen, die man weiß, und Sachen, die man nicht weiß.« Das sagte Albert zu gerne. Und die Leute hörten es zu gerne von ihm. Er sagte auch, dass es viel besser wäre, gar nicht erwachsen zu werden.
Helen bog vor Humayuns Grab links ab. Sie war schon über eine halbe Stunde unterwegs. »Ich möchte mich im Schlamm auflösen«, hatte er zu ihr gesagt. Die unvermeidlichen Touristenbusse standen an der Straße. Er sagte, er fühle sich bereits so, als wäre er Teil der schlammigen roten Erde von Delhi, der schweren Ablagerungen auf dem Grund der Yamuna. »Zeremonien soll man nicht erfinden«, beharrte er. »Sie müssen sich von selbst ergeben.«
»Und so war es«, flüsterte sie jetzt; »so war es auch, Albert, schlussendlich.«
Er gab keine Antwort. Sie stellte sich vor, wie er neben ihr ging, seine große Gestalt, sein leicht watschelnder Gang. Sie hörte förmlich seine Schritte.
»Mit John haben wir einige Fehler gemacht«, murmelte sie.
Auch als sie zum India Gate kam, blickte sie nicht auf. Ein Junge harkte den Sand neben dem Gehweg. Wenn es einen Teil von Delhi gab, den Helen noch weniger mochte als den Rest, dann war es das Delhi aus der Kolonialzeit. Die Essensgerüche aus einer Reihe von Garküchen in der Mathura Road konnten sie nicht dazu verführen, den Kopf zu wenden. Du musst essen, um richtig arbeiten zu können, sagte sie sich streng. Sie hätte gerne gehört, wie Albert es zu ihr sagte. »Du musst etwas essen, Helen!« Aber er schlug nur dumpf gegen ihr Knie.
Helen dachte über die Biografie nach. Sie näherte sich dem Mahatma-Gandhi-Denkmal, und der halbe Vormittag war bereits verstrichen. Warum reisten die Leute so weit, um sich ein paar Steinplatten anzuschauen, wenn die beste Art, dieses Mannes zu gedenken, darin bestand, seine Schriften zu lesen? Es war seltsam, dachte sie, dass dieser Amerikaner eine Biografie von Gandhi geschrieben hatte. Albert hatte Gandhi ein Manipulationsungeheuer genannt.
Sie ging bis zur Mauer und schaute über den Fluss. Sie hatte sich vorgenommen, einen heiteren, disziplinierten Rückblick auf ihr gemeinsames Leben zu werfen: Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben; wie wir uns bei Timothys Abendessen gestritten haben; wie wir in Kankanamun angekommen sind und das Schiff kurz vor dem Anleger gesunken ist? Aber jetzt erschien ihr die geistige Anstrengung dafür zu groß. Sie hätte nicht gedacht, dass es so schwierig sein könnte, das Leben ohne ihn zu füllen.
Das spärliche Winterwasser der Yamuna war ein Stückentfernt, es floss träge und braun zwischen schlammigen, müllbedeckten Ufern dahin. Zwei, drei Plünderer waren unterwegs und drehten alles um, was halbwegs lohnend aussah.
»Und, wo soll ich dich jetzt ausstreuen?«, fragte sie.
Sie ging in Richtung Norden, ungefähr achthundert Meter, vorbei an den Ghats, in Richtung Rotes Fort. Hier musste sie sich vom Fluss entfernen. Die Stadt war gigantisch, der Verkehr aufreibend. Sie trat zur Seite, um eine Prozession vorbeizulassen. Sie konnte die Bilder, die getragen wurden, nicht erkennen. Die Tanzschritte und Trommelrhythmen waren stets die gleichen: ein bunter, trampelnder Haufen. Für Helen waren diese Kundgebungen ein ermüdendes Überbleibsel aus der Vergangenheit; sie hasste die Pujas und Diwali-Feste, zu denen ihre Kollegen sie einluden. Albert mochte sie. Er war sehr gerne ein passiver Gast. Helen blieb stehen und holte tief Luft.
Um das Fort herum herrschte das übliche Gedränge: Straßenhändler, Möchtegern-Führer und umherschlendernde Amerikaner. Die Straßenhändler erkannten sofort, dass Helen nichts kaufen wollte. Nur die Rikscha-Fahrer belästigten sie, denn sie sahen, wie müde sie war. Wieso hatte ihr Sohn ausgerechnet einen steinernen Elefanten gekauft? »Als er zu mir ins Schlafzimmer kam, dachte ich, du wärst es, Albert«, sagte sie laut.
Sie folgte der Straße durch ein Gewirr von Karren und Notbehausungen bis hinunter zum Fluss und ging dann in Richtung der alten Eisenbrücke. Lastwagen, Rikschas und Taxis schoben sich drängelnd vorwärts. Als sie den Fußgängerweg der Brücke betrat, fuhr über ihrem Kopf rumpelnd ein Zug entlang. Das ganze Bauwerk erzitterte. Sie schaute durch die Eisenkonstruktion nach oben und sah Männer und Jungen an den offenen Zugtüren stehen. Dann bewegte sich eine beinlose Gestalt mit einem grellroten Tuch um den Kopf auf einem Rollwagen auf sie zu. Sie wandte sich ab. Bettlern gab sie generell nichts.
Helen ging weiter. Es machte sie
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