Traeume von Fluessen und Meeren
bei Ihrer Arbeit?«, fragte er die Frau.
Sharmistha runzelte die Stirn. »Wissen Sie, meine Aufgabe besteht nur darin, aus diesem Spinnenprojekt ein interessantes Buch zu machen. Eine Geschichte daraus zu spinnen, sozusagen. Wenn man mit Albert sprach, hatte man das Gefühl, er verhelfe einem zu großartigen Ideen. War die Spinne ausschließlich daran interessiert, Fliegen zu fangen, oder hatte das Spinnen des Netzes auch eine ästhetische Seite, gab es womöglich gar einen ästhetischen Wettbewerb unter Spinnen, nach dem Motto: Wer spinnt das schönste Netz? Oder das faszinierendste? Spendete das Netz auch Geborgenheit? Welche Beziehung bestand zwischen der Welt um das Netz herum und dem Netz selbst? Gab es eine Interaktion zwischen beiden? Wie fühlte sich die Spinne, wenn sie sich von einem zum anderen bewegte? Freute sich die Spinne hämisch über ihre Beute, oder hielt sie stets verfügbares Futter für eine Selbstverständlichkeit und sah gar keinen Zusammenhang zwischen den gefangenen Fliegen und dem Sinn des Netze-Spinnens? Fraß sie die Fliegen womöglich hauptsächlich, damit sie das Netz nicht beschädigten? Ließen sich individuelle Ausprägungen innerhalb des artenspezifischen Netzmusters ausmachen, undwenn ja, warum? Grenzt eine Spinne sich von anderen Spinnen ab? Wie macht sie das? Entstanden an verschiedenen Stellen des Netzes unterschiedliche Vibrationsmuster, wenn das Ganze erschüttert wurde, und wie nahm die Spinne sie wahr?«
Sharmistha lachte. »Albert konnte ewig über so was reden. Ehrlich. Manchmal machte er vielleicht nur Witze. Aber wenn ich dann an dem Buch weiterschrieb, wurde mir klar, dass er alles nur noch komplizierter gemacht hatte. Um voranzukommen, musste ich alles, was er gesagt hatte, wieder vergessen.«
Die junge Frau lächelte; ihre Hände lagen vollkommen still auf dem smaragdgrünen Sari, der ihre Beine bedeckte. Dort, wo das Kinn unter fein gearbeiteten silbernen Ohrringen auf den Hals traf, besaß ihre Haut einen seidigen Glanz. Paul wusste nicht, ob er Heinrich beneiden oder bemitleiden sollte.
Für den Amerikaner war es jetzt schwierig geworden, seine Zeit in Delhi zu nutzen. Er war hergekommen, um Albert in einer Serie von Interviews seine Lebensgeschichte zu entlocken. Er hatte gerade sein Visum beantragt und erhalten, als die E-Mail mit der Nachricht vom Tod des Mannes eintraf. Es dauerte ein paar Tage, ehe Paul klar wurde, wie tief greifend diese Tatsache sein Projekt veränderte. Einzelheiten und Gedanken aus dem Munde des Mannes selber zu hören war das eine; sie durch Nachforschungen zu rekonstruieren dagegen etwas ganz Anderes. Das hier konnte nicht so laufen wie bei der Gandhi-Biografie, wo er nur seine Fertigkeiten als Journalist und Philosoph eingesetzt hatte, um seine eigene Sicht auf etwas zu formulieren, über das schon tausend Mal geschrieben worden war. Im Gegenteil, über James wusste kaum jemand wirklich etwas. Die Öffentlichkeit kannte nur seine Bücher (bemerkenswert), seine Artikel (seltsam) und ein paar Vortragstexte (verblüffend). Da er jetzt nicht mehr befragt werden konnte, war es zwingend notwendig, seine Frau, mit der er sein Leben verbracht hatte, für die Mitarbeit zugewinnen. Aber du darfst sie nicht drängen, sagte sich Paul. Das wäre infam.
Andererseits war Paul Roberts nicht der Mann, der sich allzu lange mit einem Projekt aufhielt. James war für ihn zu einem Objekt der Bewunderung geworden; zu gerne würde er aus dem Mann eine Kultfigur machen; aber ein Buch war und blieb ein kommerzielles Unterfangen. Paul war ein Macher. In Indien fehlten ihm eine Freundin und die Besuche bei seinen Kindern. Wenn es zu langsam ging, würde er ungeduldig werden.
Wie also anfangen? Albert James’ Sohn war wieder verschwunden, noch ehe der Biograf ganz kapiert hatte, dass er da war. Um mit ihm zu reden, müsste er nach London fliegen. Das konnte er vielleicht auf dem Rückweg in die Staaten machen. In der Zwischenzeit hatte er einen vorbereitenden Anruf erledigt und war dann Sharmisthas Wegbeschreibung zum Sitz der Theosophischen Gesellschaft gefolgt, die in einer ruhigen Straße in der Nähe von Rosnahara Garden lag. Das Wetter wurde langsam milder. Hinter der niedrigen Gartenmauer standen orangefarben blühende Bäume.
Dr. Bhagwan Coomaraswamy hatte ausschließlich bei den monatlichen Treffen der Gesellschaft mit Albert gesprochen, sagte er. »Ja, genau hier, an diesem Ort.«
Der in eine weiße Tunika gekleidete Inder wies mit schlaffem Arm
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