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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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zu Hause aufsuchten, um ihn zu der Aussage eines fünfzehnjährigen puerto-ricanischen Mädchens zu befragen.
    Paul schaute noch einmal die Mappe durch, in der er ihre Korrespondenz aufbewahrte. Es war aufreibend gewesen. Albert James hatte die Gewohnheit, entweder sofort zu antworten, innerhalb weniger Minuten, oder aber erst nach drei, vier Wochen. Er schrieb mal im Telegrammstil, mal nervtötend wortreich. »Meine Gedanken können Sie gerne verwenden, aber bitte graben Sie nicht meinen Leichnam wieder aus«, lautete seine erste Reaktion auf den Vorschlag einer Biografie. War er damals schon krank gewesen? fragte sich Paul jetzt. Auf die Frage, woran er gerade arbeite, hatte James geantwortet: » Im Land der Elben «. Auf Pauls Druck hin hatte er eine Word-Datei von etwa vierzig Seiten mit sehr technischen Überlegungen über die Beschaffenheit von Spinnennetzen geschickt. »Der entscheidende Unterschied zwischen Spinnen und ihren Opfern«, schloss er, »besteht darin, dass Erstere sich ohne Schwierigkeiten in den klebrigen Fäden, die sie erzeugt haben, bewegen können – etwas, das die Wissenschaft noch nicht ganz erklären kann –, Letztere jedoch nicht, zumindest nicht, ehe sie mit der Spinne, beziehungsweise ihren Eingeweiden, eins geworden sind.«
    »Alles, was Sie mir erzählen«, hatte Paul geantwortet, »steigert nur meinen Wunsch, dieses Buch zu schreiben.«
    Aber der Mann blieb ausweichend. Paul hatte sich sofort auf den Weg nach Delhi gemacht, als er eine Nachricht von Albert James’ E-Mail-Adresse erhielt: Mr. Albert ist verstorben. Einäscherung auf dem englischen Friedhof. »Können Sie mir sagen, wer dasgeschickt hat?«, schrieb er auf seinem BlackBerry vom Flughafen aus zurück. Er hatte keine Antwort erhalten. Paul hatte lange mit Sharmistha Puri und ihrem Freund Heinrich gesprochen, in ihrer Wohnung in Saket, aber Sharmistha erklärte, sie habe mit Albert nur telefonisch oder bei den wöchentlichen Treffen des Forschungsteams kommuniziert, für das sie schrieb. Er hatte erwähnt, dass er krank sei, und zwei, drei Mal war er für längere Zeit nicht da gewesen, aber sie hatte keine Ahnung gehabt, wo er sich behandeln ließ oder was er hatte.
    »Er war ein Mann« – die attraktive Frau fuhr sich mit der Zunge über die glänzenden Zähne –, »der alles über einen wissen wollte. Über die anderen. Von sich selbst sprach er nie.«
    »Er konnte wunderbar zuhören«, warf Heinrich ein. »Ist ein paar Mal zu mir in die Psychiatrie gekommen. Hat sich einfach zu den Patienten gesetzt und ihnen stundenlang zugehört. Sogar wenn sie Bengali oder Gujarati sprachen, das er überhaupt nicht verstand. Er hat mir immer gesagt, ich soll ihnen keine Medikamente geben und sie einfach in Ruhe lassen.«
    Der Deutsche war groß, schlank, ernst und höflich. Manchmal brach er unvermittelt in lautes Lachen aus. Seine zum Teil ergrauten Augenbrauen waren bemerkenswert. Sharmistha, die auf Kissen neben ihm saß, den Rücken an die Wand gelehnt, war von einer beherrschten, sehr dezenten Schönheit und hielt den Kopf immer leicht geneigt. »Wenn er einem Fragen über das Leben gestellt hat«, erläuterte sie, »dann wusste man, dass er Mustern nachspürte und Hypothesen überprüfte. Das Eigenartige war, dass man ganz unwillkürlich mitspielte. Er sagte: ›Sie müssen mich behandeln, als wäre ich gar nicht da, Sharmistha.‹«
    »Sie wissen, dass er oft gefragt hat, ob er bei Abendessen oder Partys eine Videokamera aufstellen durfte, nicht wahr?« Heinrich schüttelte den Kopf. »Stellte sie einfach auf und ließ sie laufen. Wie eine Überwachungskamera.«
    »Wenn ich so darüber nachdenke«, sagte Sharmisthakichernd, »dann war Albert vermutlich außer meinem Vater der einzige Mann, der nie versucht hat, mich zu verführen.«
    »Aber er hat dich doch komplett verführt!«, gab Heinrich zurück und schlug sich begeistert auf den Schenkel. »Du warst total verliebt in ihn, Shasha! Und er in dich! Und mit seinem Sohn war es das Gleiche, direkt nach der Trauerfeier! Schon bei der ersten Begegnung fandest du den Jungen unwiderstehlich.«
    »Albert hat alle betört«, gab Sharmistha zu.
    Paul Roberts betrachtete das Paar. Von Zeit zu Zeit tauschten sie ein wissendes Lächeln. Der Altersunterschied betrug etwa zwanzig Jahre, schätzte er. Aber sie konnten ihm nicht eine einzige konkrete Geschichte erzählen, die er für sein Buch verwenden konnte, nichts, was Albert James tatsächlich gemacht hatte. »War er eine Hilfe

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