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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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Chinesin. »Da Sie ohnehin auf dem Exotik-Trip zu sein scheinen«, bemerkte der Feuilleton-Chef, »wie wär’s, wenn Sie sich das hier mal ansehen?« Er überreichte Paul ein Rezensionsexemplar. Keiner der beiden Journalisten hatte je von dem Verlag gehört.
    »Warum sind literarische Beschreibungen einer Kultur interessanter als wissenschaftliche Analysen«, lautete der Anfang von Wau , »während wissenschaftliche Analysen dennoch als ›nützlicher‹ angesehen werden? Lassen sich die beiden Formen zusammenbringen, oder schließen sie sich gegenseitig aus, so wie Betrachtung und Tat?«
    Albert James sprach dann im Folgenden mit scheinbar beiläufiger Detailgenauigkeit von einer Gruppe von Menschen, die in Hütten lebten, welche auf Pfähle in den Sumpf gebaut waren: sie fischten, ernteten Sago, merkten sich lange Listen mit den Namen ihrer Vorfahren, wetteiferten darin, sich die schmerzhaftesten Initiationsriten für ihre halbwüchsigen Kinder auszudenken, und nutzten genussvoll jede Gelegenheit, einen Mord zu begehen. »Mir war nie klar«, hatte James geschrieben, »warum ich ein Detail genauer verfolgen sollte als ein anderes; es besteht eine ethische Verbindung zwischen der Art, wie ein Jäger seinen Pfeil präpariert, seine Frau vor dem Kochtopf hockt und ein Kind aufgefordert wird, einen Speer in den Bauch eines wehrlosen Gefangenen zu rammen.« Um diese Tatsache zu untermauern, hatte James die Seiten mit Fotos gepflastert, deren offensichtlichstes verbindendes Element allerdings die schlechte Bildqualität war.
    Paul Roberts hatte anfangs nicht verstanden, warum dieses seltsame Buch ihn so tief bewegt hatte. Die puritanischen Vorstellungen seiner Mutter und seiner Frau oder die besitzergreifende Aggressivität seiner Geliebten ließen sich wohl kaum mit den abartigen Verhaltensmustern von einem Haufen Wilden vergleichen. Aber zum ersten Mal fiel ihm auf, wie stark seine eigene Identität und sein eigenes Verhalten in ein Muster verborgener Rituale eingebunden waren. Er verstieß ständig gegen eine Vielzahl von Ge- und Verboten, aber immer heimlich und mit einem ausreichend großen Schuldgefühl, um vor jeder Entscheidung, die den Status quo tatsächlich gefährden konnte,zurückzuschrecken. Deine ganze Rebellion, sagte sich der Journalist – und zu dem Zeitpunkt hatte er James’ früheres Werk Mythische Individuen entdeckt –, ist nur Theater, du spielst eine Rolle, die im Textbuch deiner Kultur seit Generationen vorgesehen ist. Du machst nichts Anderes, als den bösen Buben zu mimen. Es wurde Zeit, Ernst zu machen, dachte Paul.
    In seinem Schlusssatz zu Wau hatte James beschrieben, welch verheerende Wirkung es auf den Stamm gehabt hatte, als eine Gruppe junger Männer, die eine Zeit lang in Kupferminen in Australien gearbeitet hatten, nach ihrer Rückkehr die Regeln nicht mehr befolgt hatte. Sie sprachen ganz beiläufig die tabuisierten Namen der Familientotems aus. Sie hielten es nicht für nötig, ihre Musikinstrumente vor den Frauen zu verbergen. »Die ganze komplexe Struktur des Stammeslebens wurde weggefegt«, hatte James geschrieben, »wie ein Spinnennetz von einem heftigen Windstoß. Obwohl ja die Spinne, wie wir wissen, nicht müde wird, ihr Netz beständig zu erneuern.«
    »Die Befreiung, die Ihr Buch mir beschert hat«, hatte Paul auf die provokante Frage seines Mentors geantwortet, »bestand darin, dass es mir ein Geflecht von Beziehungen sichtbar gemacht hat, die mich in einer unglücklichen und unproduktiven Situation gefangen hielten.«
    »Merkwürdig«, schrieb James zurück – er verwendete eine klitzekleine Kursivschrift, die das Lesen seiner E-Mails nicht gerade leicht machte –, »unglückliche Situationen sind für gewöhnlich die produktivsten.«
    Sieben Jahre nach Wau hatte James in Chikago die Theorie entwickelt, die ihm für kurze Zeit eine gewisse Berühmtheit einbrachte: eine schematische Klassifikation von Familienstrukturen und typischen Konflikten, die zu entsprechenden Neurosen führen konnten: Anorexie, Zwangsneurosen, Phobien. Während Therapeuten Systeme und geistige Gesundheit als wichtiges Werkzeug in ihrer Arbeit benutzten, wurde das Buch vonFamilienverbänden und Arzneimittelfirmen angeprangert. James hatte getan, was er konnte, um sich aus der Kontroverse herauszuhalten, hatte sein Buch sogar zu einem eher geisteswissenschaftlichen als psychologischen Werk erklärt – die meisten seiner Beispiele entstammten Romanen, nicht dem Leben –, als zwei Polizisten ihn

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