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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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Reihe pulte an ihrer Nagelhaut. Sie schaute nicht hoch.
    »Was glaubt ihr, wenn ihr euch so erinnert, was wollte Mr. James euch hauptsächlich beibringen? Ich meine, wenn ihr es in ein paar Sätzen zusammenfassen wolltet?«
    »Er hat Naturwissenschaften unterrichtet«, sagte eine Stimme.
    »Das meint der Mann doch nicht«, protestierte ein anderes Mädchen und fing an zu kichern. Hier und da erhob sich eine Stimme, als wäre sie aus einem erwartungsvollen Schweigen erlöst worden.
    Schließlich sagte ein ernstes, pausbäckiges Mädchen in der zweiten Reihe: »Mr. James hat uns beigebracht, dass es in einer Stunde über Spinnen gleichzeitig auch um uns alle hier im Klassenzimmer geht. Er sagte: Was ihr malt, das seid ihr. Und eure Vorfahren. Die Art, wie du einen Elefanten zeichnest, ist Indien.«
    »Die Geschichte von Indien«, sagte jemand.
    »Und die Zukunft.«
    Weiter hinten begrub ein Mädchen sein Gesicht in den Händen. Ein Gefühl schien sie zu überwältigen. Wie bei Coomaraswamy, nur auf ganz andere Art, hatte Paul auch hier den Eindruck, dass ihm wichtige Informationen vorenthalten wurden. Wäre er ein paar Wochen eher nach Delhi gekommen und hätte Albert James leibhaftig angetroffen, dann hätte sich alles ergeben. Stattdessen war er gerade rechtzeitig eingetroffen, um den Rauch vom Krematorium aufsteigen zu sehen. Der Mann war ihm entwischt.
    Bei seiner Rückkehr ins Hotel fand Paul einen gelben Zettel unter seiner Zimmertür, auf dem stand: » TELEFONISCHE NACHRICHT . Von: Mrs. James . Text: Ich werde Ihnen die Erlaubnis nicht erteilen .«

11
    John schrieb eine E-Mail an seine Mutter, bekam aber keine Antwort. »Du kannst mich nicht zwingen zu tun, was du willst«, hatte Elaine gesagt. »Ebenso wenig wie mein Vater.« Ich habe kein Geld mehr, Mum , schrieb John noch einmal. Anrufen wollte er nicht. Elaine erinnerte ihn daran, dass er ihr 200 Pfund schuldete. Sie wollte nicht mal übers Zusammenziehen reden. »Wenn du mir noch mal wehtust, ist es aus«, sagte sie.
    John versuchte, sich zehn, zwölf Stunden am Tag im Labor zu vergraben, aber seine Begeisterung für die Darstellung der unsichtbaren Welt der Genexpression des Tuberkelbakteriums ließ langsam nach. Ein australisches Team in Adelaide hatte etwas sehr Ähnliches gemacht, wie ihre eigene Gruppe sich vorgenommen hatte. Sie hatten ein Ribosom dazu gebracht, sich genau in dem Augenblick, in dem das Bakterium vom inaktiven in den aktiven Zustand wechselte, untypisch zu verhalten. Sogar am anderen Ende der Welt lagen diese Ideen in der Luft. Das war ein Ausdruck, den sein Vater oft benutzt hatte. »Wir kontrollieren unsere Gedanken nicht, John. Diese Sachen liegen in der Luft.«
    John starrte mit leerem Blick auf seinen Computerbildschirm und schüttelte den Kopf. Ich hätte Dad gegenübertreten sollen, hätte hinfliegen sollen, um ihn zu sehen. Aber mit welchem Ziel? Mum , schrieb er, ich habe inzwischen Schulden in Höhe von 2000 Pfund.
    Er gab erneut den Namen seines Vaters bei Googl e ein. Diesmal klickte er die Rubrik Bilder an. Ein Dutzend Gesichtererschien. Kein bekanntes dabei. Es war die erste von dreiundzwanzig Seiten. Man könnte eine Geschichte der Fotografie schreiben, oder der Porträtmalerei. Es gab Hunderte von Bildern. Jemand baute an einem Familienstammbaum aus Fotos, die bis in die Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts zurückreichten. Es gab einen Albert James mit Augenklappe und Schnauzbart, einen jungen Schwarzen mit Basecap, einen tüchtigen Seemann, der auf der HMS Hood umgekommen war. »Wir werden dich nicht vergessen«, lautete die Bildunterschrift.
    Johns Vater erschien auf der vierten Seite; seine grünen Augen blickten belustigt und gequält. Seltsamerweise stand er auf dem Bild Arm in Arm mit einem Zulu in voller Stammestracht, der einen Speer hielt. Auf der zehnten Seite war eine Karikatur von Albert James, die kurz nach dem Erscheinen von Gesten im New York Review abgedruckt worden war. Dem Künstler war nichts Besseres eingefallen, als die abstehenden Ohren des Anthropologen zu betonen.
    Seine Mutter antwortete nicht. Das konnte nicht wahr sein. Elaine versicherte John, sie habe ihm verziehen, aber sie sei wirklich sehr beschäftigt mit den Proben. »Dann besorg dir doch einen bezahlten Job«, riet sie ihm. »Teilzeit.« Das Mädchen schien von dem, was an dem Abend zwischen ihnen passiert war, zugleich fasziniert und erschrocken zu sein. Beide hatten blaue Flecken. Keiner von ihnen wollte darüber reden.
    Mutter ,

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