Traeume von Fluessen und Meeren
Aradhna, Mr. Roberts ist Gandhi-Experte«, und als sie zurückkam, verkündete sie zwischen hektischem Händeschütteln mit Hinweis auf die Frau auf demKissen: »Aradhna Verma ist Präsidentin der Gandhi Society von Delhi.«
Und so fand sich Paul, noch ehe er sich in der Wohnung umsehen konnte, in einen Disput darüber verwickelt, dass die Medien in Indien den Forderungen der armen Landbevölkerung nur dann Beachtung schenkten, wenn irgendeine Berühmtheit sich öffentlich dazu äußerte. »Und selbst dann«, klagte Mrs. Verma und strahlte vor Empörung, »interessieren sich die Journalisten mehr für die Berühmheit als für die Armen! Sie wollen wissen, welche Urlaubspläne Arundhati Roy hat oder wo ihr Mann seinen nächsten Film dreht, während sie ihnen von einem Rettungsplan für Kleinschuldner erzählen will. Wissen Sie eigentlich«, fragte die Frau in die Runde der Anwesenden, »wie viele arme Bauern sich allein im letzten Jahr wegen ihrer Schulden umgebracht haben? Es ist eine Schande. Tausende! Viele ihrer Frauen haben ebenfalls Selbstmord begangen. Und in fast allen Fällen hätte durch ein Geschenk von 1000 Rupien ein Leben gerettet werden können. 1000 Rupien! Oder natürlich durch die Verhaftung der Geldverleiher, die allesamt Schurken der übelsten Sorte sind. Die Polizei sollte sie sofort schnappen, aber die lässt sich natürlich schmieren. Und diese Journalisten wollen wissen, ob Arundhati zum nächsten Filmfestival nach Cannes fährt!«
Aradhna Verma, elegant gekleidet in einen silbergrauen Sari mit orangefarbenem Oberteil, die beringten Finger über den Knien verschränkt, schaukelte beim Sprechen leicht vor und zurück, um ihre Worte zu bekräftigen. Die Entscheidung, sich hinzuknien, hatte sie gegenüber denen, die im Schneidersitz saßen, in eine überlegene Position gebracht, und sobald jemand sie zu unterbrechen drohte, erhob sie ihre Stimme, die tief aus ihrem beachtlichen Bauch zu kommen schien. Erst als sie einen weiteren Gin Tonic entgegennahm, hatte Paul Gelegenheit einzuwerfen: »Gandhi selbst war natürlich auch ein Star.«
Die Frau nahm ihn ins Visier. »Ich will nur sagen, dass die Lehren des Mahatma bei den heutigen Medienleuten gänzlich in Vergessenheit geraten sind, und deshalb müssen wir aggressivere und kreativere Wege finden, um sie für seine Ziele zu interessieren.«
»Aggressivere?«, fragte Paul. Das junge Mädchen bot ihm ein Tablett mit Snacks auf Spießchen an. »Vielen Dank«, sagte er. Er aß ausgesprochen gern.
»Gewaltlosigkeit bedeutet nicht, dass wir passiv sein müssen«, erklärte ihm die Frau. »Ihr Europäer verwechselt das ständig. Entweder ihr kolonialisiert die Welt mit Waffengewalt, oder ihr lehnt euch nur jammernd zurück und redet von Liebe und Frieden.«
»Ich bin Amerikaner«, sagte Paul lachend. »Was vermutlich noch schlimmer ist.« Er hob den Blick, um den Rest der Runde einzubeziehen, und sagte: »Vielleicht besteht das Problem darin, dass berühmte Leute für die Leser tatsächlich interessanter sind als arme Bauern. Gandhi war mit Sicherheit wesentlich interessanter als die Leute, denen er helfen wollte.«
»Aber kommt es bei den Nachrichten denn nur darauf an, was interessant ist?«, gab Aradhna Verma zurück. »Ein Mann bringt sich um, weil ihm 1000 Rupien fehlen, und Sie denken an den Unterhaltungswert!«
Paul bereute bereits, dass er sich eingeschaltet hatte, denn ihm fiel jetzt wieder ein, wie ernst die Inder ihre politischen Debatten nahmen und wie viele Aperitifs sie trinken konnten, ehe sie sich zu Tisch begaben. Aber der Sikh lächelte ihn mit halb geschlossenen Augenlidern an.
»Ich fürchte, ich habe Ihren Namen vergessen«, sagte Paul zu ihm.
»Kulwant Singh.« Er streckte Paul eine sehr große Hand entgegen. Seine Stimme war angenehm tief, die kleinen Augen lebhaft.
»Wie geht es deiner Tochter, Kulwant?«, mischte sich Helen ein. Das Eis in ihrem Glas klirrte, als sie sich aufs Sofa setzte. »Das arme Ding hat sich bei einem Verkehrsunfall am Bein verletzt«, erklärte sie Paul. Sie sprach einfach über die tiefe Stimme der Gandhi-Frau hinweg, der dadurch nichts anderes übrig blieb, als sich direkt dem Engländer und seiner chinesischen Freundin zuzuwenden.
»Ich fürchte, aus der Hochzeit wird nichts«, sagte Kulwant. Er verzog das Gesicht. »Gar nicht wegen der Familie des Bräutigams, sondern weil Jasmeet so empört darüber war, dass sie plötzlich so herumgedruckst haben, als sie operiert werden musste. Sie sagte,
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