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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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die Unterlippe. »Ich wollte auch noch sagen … Sie sind sein Sohn?«
    »Ja.«
    »Sie sehen ihm gar nicht ähnlich.«
    »Natürlich bin ich sein Sohn.«
    »Ihr Vater wirkte nicht sehr krank, Mr. John. Es war seltsam, dass er mir das Telefon gegeben hat. Er sagte, er sei am Laden meines Vaters vorbeigekommen und hätte einfach hereingeschaut. Er sagte, wir müssten ohne ihn weitermachen, ich müsste das Telefon benutzen, aber die anderen haben sich alle gestritten, und dann haben wir aufgehört.«
    »Hören Sie, haben Sie einen Brief von ihm an mich abgeschickt?«
    »Wie bitte?«
    »Von meinem Vater. Haben Sie einen Brief von ihm gefunden und an mich abgeschickt?«
    »Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie.
    John fuhr mit dem Rikschafahrer, der in der Nähe gewartet hatte, ins Hotel zurück. Grinsend und siegesgewiss hatte er John gewunken. Sie tauchten in das überhitzte Chaos des Verkehrs in Richtung Stadt ein. Unter einem Balkon stand auf einem großen Holzklotz eine Ziege, die so am Hals festgebunden war, dass sie sich strangulieren würde, sobald sie von dem Klotzherunterstieg. Von den Türmen der Jama-Masjid-Moschee erklang ein Gebetsruf, der die Dunkelheit vibrieren ließ. Eine Menschenmenge schob sich durch rauchiges Laternenlicht die Stufen zur Moschee hinauf. John hatte das Gefühl, all seine Kraft und Zielstrebigkeit seien ihm abhandengekommen.

16
    Liebe Helen (wenn Du gestattest),
    ich werde bald nach Boston zurückfliegen, aber vor meiner Abreise möchte ich Dir noch die ersten Seiten dieser Biografie zeigen, in der Hoffnung, dass Du es Dir anders überlegst und mir doch dabei hilfst.
    Du wirst sehen, dass die Einleitung einen kurzen Überblick über das Leben Deines Mannes liefert und die Bandbreite und den Ehrgeiz seiner Arbeit aufzeigt. Um den Lesern Appetit auf mehr zu machen, habe ich gewagt anzudeuten, dass sein eigentliches Ziel darin bestand, einen neuen Geisteszustand zu finden, oder ein neues Verhaltensmuster, das Ausgangspunkt für eine Lösung vieler Krisen unserer Zeit sein könnte, sowohl der politischen wie auch der ökologischen und existenziellen.
    Im zweiten Kapitel beschreibe ich die prägenden Ereignisse in Alberts Kindheit, und hier wäre ich sehr dankbar, wenn Du mich korrigieren würdest, falls ich etwas falsch dargestellt habe.
    Es versteht sich von selbst, dass Deine Entscheidung, meine Arbeit nicht zu unterstützen, nicht nur einen schweren Rückschlag darstellt, sondern bei mir auch persönlich großes Bedauern ausgelöst hat. Es wäre mir ein außerordentliches Vergnügen gewesen, mit Dir zusammenzuarbeiten.
    Herzlich,
    Paul Roberts.

    Paul hatte diesen Brief zusammen mit fünfzig getippten Seiten persönlich in Helen James’ Klinik gebracht und keine achtundvierzig Stunden später telefonisch eine Einladung zum Essen bei ihr zu Hause erhalten. Das spornte ihn ungeheuer an. Seine Arbeit hatte sie überzeugt, dachte er, und jetzt wurde er mit einem Einblick in Albert James’ Zuhause belohnt. Paul machte sich fertig, um in den drückend heißen Abend hinauszugehen. Er rasierte sich sorgfältig und zog einen hellen Leinenanzug und ein hellbraunes Hemd an, um besonders gut auszusehen.
    Aber als er in der Wohnung der James’ eintraf, stellte der Amerikaner fest, dass er nicht der einzige Gast war. »Darf ich dir Kulwant Singh vorstellen«, sagte Helen James mit heller Stimme, während sie ihn ins Wohnzimmer führte. Dort war eine Art Party im Gange. Ein stattlicher Sikh mit elegantem blauen Turban und dickem Bart saß in weiten alten Hosen im Schneidersitz auf dem Boden, den Rücken an ein handgezimmertes Bücherregal gelehnt, während eine Frau mittleren Alters mit umfangreicher Taille in der Mitte des Raumes auf einem Kissen kniete und sehr ernst auf einen hageren Engländer und seine jüngere chinesische Partnerin einredete.
    Paul zog seine Schuhe aus und entschuldigte sich dafür, dass er sich nicht zu den anderen auf den Boden setzte – »ich bin leider nicht besonders gelenkig«, gestand er –, dann nahm er auf dem Sofa Platz, wo ihm sofort von einem großen Mädchen, das anmutig barfuß mit Getränken und Snacks hin und her lief, eine Art Cocktail gereicht wurde. Kaum hatte Helen sich neben ihn gesetzt, um alle vorzustellen, sprang sie auch schon wieder auf und begrüßte ein weiteres Paar, diesmal zwei ältere, joviale Inder. In ihrem schlichten weißen Baumwollkleid wirkte sie für eine Frau ihres Alters ziemlich mädchenhaft. Auf dem Weg zur Tür rief sie: »Übrigens,

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