Traeume von Fluessen und Meeren
nicht beleidigt. »Liebste Helen, die Frage ist doch, wie können wir auf der Welt etwas bewirken, nicht wahr? Wenn du in der Klinik ein Leben rettest, dann ist das sehr gut, aber wenn ich hundert oder tausend andere dazu bringe, Leben zu retten, dann ist das noch besser. Das hat der Mahatma gemacht.«
Helen wandte sich an Paul. »Unser amerikanischer Gast hat ein Buch über Gandhi geschrieben und sitzt jetzt an einer Biografie von Albert. Ja«, sagte sie auf die überraschten Reaktionen hin, »er möchte Alberts Leben aufschreiben. Was sagst du denn zu diesem Thema, Paul?«
Es saßen ein Dutzend Leute am Tisch, die mit den Fingern aßen und von dem stillen indischen Mädchen und einer älteren Dame bedient wurden, die in der Küche das Regiment über Pfannen und Töpfe geführt hatte. Auf dem Tisch waren Geschirr, Saucen und Gewürze aller Art verteilt. Nach Helens unerwarteter Ansage drehten alle Gäste die Köpfe und schauten den stämmigen Amerikaner in dem braunen Hemd und dem hellen Leinenanzug an.
Paul zögerte. »Es gibt nichts, was ich einer indischen Runde über den Mahatma erzählen könnte.«
»Versuchen Sie’s«, sagte Aradhna Verma herausfordernd.
»Sehen Sie Parallelen zu Albert?«, fragte jemand. »Ich meine, beide waren ja Männer von außergewöhnlicher Denkweise. Und Vertreter des Friedens.«
Paul legte seine Gabel hin. Er schaute in die Runde. Helen hatte ihn mal wieder in Verlegenheit gebracht.
»Es ist unstrittig«, sagte er vorsichtig, »dass der Mahatma einsehr geschickter Stratege und Propagandist war. Er betrachtete das Leben als moralische Aufgabe und glaubte an den absoluten Wert persönlicher Einmischung in öffentliche Angelegenheiten. Und mehr noch, er glaubte, man könne entschlossen handeln und trotzdem durch passiven Widerstand rein bleiben.«
Er hielt inne. »Albert dagegen … tja …« Paul strich sich mit einer Hand über die borstigen Haare. »Sieht so aus, als hätte ich dieses Projekt angefangen, ohne genau zu wissen, warum. Albert hat nicht geglaubt, dass man handeln und dabei rein bleiben kann. Oder vielleicht war ihm Reinheit auch nicht so wichtig. Vielleicht hat er gar nicht an zielgerichtete Handlungen geglaubt. Er …«
Paul brach ab. Am Tisch herrschte ein leicht peinlich berührtes Schweigen. Sogar das Dienstmädchen stand mit dem hängenden Tablett in ihrer schlanken Hand still neben dem Tisch und hörte und schaute zu. Als Paul aufblickte, schaute sie zu Boden. Er war beeindruckt von einer seltsamen Unterwürfigkeit in ihrer Körperhaltung. Sie war sehr attraktiv.
Der Engländer kam lahm und höflich zu Hilfe und sagte: »Ich muss gestehen, dass ich sehr wenig über Alberts Arbeit weiß. Wir haben uns nur getroffen, wenn er beim Council vorbeikam, um irgendein Projekt vorzuschlagen. Ich fürchte, seine Vorstellungen waren mit denen unserer Leute in London einfach nicht in Einklang zu bringen. Vielleicht können Sie mir raten, was ich zuerst lesen sollte.«
»Graham ist Leiter des British Council in Delhi«, erklärte Helen.
»Die wichtigsten Titel liegen auf der Hand«, sagte Paul. Er zählte ein paar von ihnen auf und trank dann einen Schluck Wein. »Diese Texte haben mich stark beeinflusst«, fügte er hinzu.
»In welcher Hinsicht?«, erkundigte sich der Filmregisseur.
Paul war nicht klar, ob die anderen tatsächlich keine Ahnungvon James’ Arbeit hatten oder ob er es mit einer stillschweigenden Verschwörung zu tun hatte.
»Wie dem auch sei« – er umging die Frage –, »ich bin an Alberts Lebensgeschichte interessiert. Nicht nur an seinen Theorien. Das ist eine andere Geschichte. Eine, die schwieriger zu erzählen ist vielleicht.«
Das Dienstmädchen stand immer noch reglos am Tisch. Ihr Haar war wie bei einem Schulmädchen stramm in der Mitte gescheitelt, die Kopfhaut fast weiß. Ein schwerer schwarzer Zopf glänzte hinter ihrem Kopf.
»Bitte fahren Sie doch fort«, sagte Hakim Azad hartnäckig. »Jeder Künstler träumt davon, das Leben anderer zu beeinflussen.«
»Albert war aber Wissenschaftler«, wandte die Frau aus dem älteren Pärchen ein. »Und nicht Künstler.«
»In jeder Präsentation steckt auch ein bisschen Kunst«, bemerkte ihr Mann.
»Okay.« Paul stippte eine Stange Sellerie in eine rote Sauce und blickte in die Runde. »Fassen wir es mal so zusammen: Gandhi glaubte an Taten, er stellte sich in den Mittelpunkt einer der bedeutendsten Geschichten seines Jahrhunderts, der indischen Unabhängigkeit, und er opferte ihr alles,
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