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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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mehr!«
    »Das Problem ist nicht die Enthaltsamkeit gegenüber der Ehefrau«, bemerkte Kulwant, »sondern gegenüber den anderen!«
    »So viel steht fest«, sagte Helen. Sie sprang auf und ging schnell in die Küche.
    Weitere Gäste trafen ein. Noch mehr Drinks wurdengereicht. Da er sich aus der Debatte zwischen dem gemäßigten Engländer und der Gandhi-Frau über die Frage, ob die britische Herrschaft in Indien die Kastentrennung verschärft hatte oder nicht, heraushielt, hatte Paul endlich Gelegenheit, sich umzusehen. Sofort wurde ihm bewusst, dass die Wohnung kleiner und schäbiger war, als er sie sich vorgestellt hatte. Das Sofa war zerschlissen, vermutlich schon gebraucht gekauft worden, oder aber sie hatten möbliert gemietet. Die Sitzkissen waren bloß staubige alte Kopfkissen anstelle der bunt gemusterten Polster, die indische Familien so gerne hatten. Die Klimaanlage machte viel Krach und verströmte einen säuerlich-feuchten Geruch im Raum. Es gab keinerlei Dekoration, auch keine Bilder an den Wänden, was wirklich ungewöhnlich war. Keine Fotos, dachte Paul, von Albert und Helen, nicht mal von ihrem Sohn. Vielleicht hingen im Schlafzimmer welche. Für sein Buch würde er Fotos brauchen.
    Inzwischen schien Helen, obwohl sie so lebhaft und forsch wie immer auftrat, in eine undefinierbare Stimmung verfallen zu sein. Sie setzte sich zu der Gruppe um das Sofa herum und gab sich geistreich und weltgewandt, wirkte aber irgendwie fragil und ruhelos. Die Partyatmosphäre unterstrich ihre Sprödigkeit, zum Beispiel als sie plötzlich in die Küche gegangen war, gerade als die Gandhi-Frau endlich ein bisschen lockerer wurde. Er sah zu, wie sie eine weitere Vorstellungsrunde absolvierte – »Hakim Azad«, sagte sie, »ja, genau, der preisgekrönte Regisseur« –, und hatte das Gefühl, seine Gastgeberin agiere rein mechanisch. Mit ihren Gedanken war sie ganz woanders.
    »Meine Damen und Herren«, verkündete Helen mit leichter Ironie, als sich endlich alle zu Tisch begaben, »dies ist, wie Sie sich sicher denken können, seit längerer Zeit das erste Abendessen, dass ich gebe.« Sie lachte. »Meistens gehe ich um neun ins Bett. Albert mochte Partys ausgesprochen gerne, nur leider lieber die bei anderen Leuten. Falls das Alleinsein also irgendeinenVorteil hat, dann den, dass ich mich nun für eure Gastfreundschaft in den letzten fünf Jahren revanchieren kann. Es ist wirklich schön, diese elende alte Wohnung so voller Menschen zu erleben.«
    Das war eine eher seltsame Anspielung, dachte Paul, auf Alberts Tod, und für einen Moment herrschte Schweigen am Tisch. Dann fing das ältere Paar an, Helen unter ausführlichem Kopfwackeln zu einem wundervollen Abend zu gratulieren und daran zu erinnern, dass es vor zwanzig Jahren viel öfter solche schönen Abendessen gegeben hatte. Heutzutage schienen solche Partys den gut verdienenden jungen Computerleuten vorbehalten zu sein. »Ich hatte einfach das Gefühl, ohne Albert könnte ich in ein schwarzes Loch fallen«, gestand Helen etwas vertraulicher dem chinesischen Mädchen, nachdem sie am Tisch Platz genommen hatten. Aber sie ließ zu, dass Paul es auch hörte, absichtlich, so schien ihm. Und sie hatte ihn neben sich platziert. Vermutlich wollte sie ihm sagen, was sie von den Texten hielt, die er ihr geschickt hatte. Warum hätte sie ihn sonst eingeladen?
    Bei Tisch beherrschte die Gandhi-Frau die Unterhaltung. Sie hatte keine Skrupel, mit vollem Mund zu sprechen. Der attraktive Hakim Azad in seiner langen weißen Kurta saß neben ihr und klagte darüber, dass der Umweltschutz keinerlei finanzielle Unterstützung mehr fände. Er drehte Naturfilme. Er sprach von den Tigern in Madhya Pradesh. Paul aß und hörte zu. Welche Art von Beziehung hatte Albert James zu diesen Leuten gehabt? Die einzigen Zugeständnisse, sagte Aradhna Verma, die der Umwelt zuliebe gemacht wurden, geschahen auf Kosten der Armen, denen man vorschrieb, bestimmte Pestizide nicht zu benutzen oder auf ihrem Land nichts anzubauen, wenn dort eine seltene Schlangenart lebte.
    Plötzlich erhob Helen Einspruch: »Aradhna, es kommt nicht darauf an, die Medien anzugreifen oder den Reichen die Schuldzu geben, sondern sich selber richtig zu verhalten und nicht viel Aufhebens davon zu machen. Wenn ich alles Empörende, was ich tagtäglich sehe, aufzählen wollte, wäre das eine endlose Liste. Wir sollten damit anfangen, die kleinen Probleme in unserem Umfeld zu lösen.«
    Die Vorsitzende der Gandhi Society war

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