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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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wolle ihnen vorschlagen, ihr Verhalten zu ändern. Vor den Menschen hatte er Angst bekommen.«
    Paul spürte das Gewicht der Frau, die an ihm lehnte. In dem Artikel, den Albert James ihm per E-Mail geschickt hatte, fiel ihm jetzt ein, wurde eine Spinnenart beschrieben, bei der das Weibchen das Netz spann und die kleineren Männchen riskierten, mit Beute verwechselt zu werden, wenn sie sich ihr näherten. »Die Fasern, die das Netz festhalten, sind stärker als Kevlar«, hatte Albert geschrieben. »Bisher sind alle Versuche, diese Seide synthetisch herzustellen, fehlgeschlagen.«
    »Helen«, sagte Paul leise. Zugleich war er verblüfft von der Größe des Netzes, das die Spinne spann; es musste einen Durchmesser von mindestens drei Metern haben, aber so, wie die Kamera positioniert war, sah es aus, als bewege sich das Tier über die ganze Breite einer alten Ziegelsteinfassade, die sich ungefähr fünfzehn Meter hinter den Bäumen befand, an denen das Netz hing. Durch die Seidenfäden und die Einstellung der Brennweite waren die jungen Männer und Frauen, die ständig durch eine Schwingtür ein und aus gingen, nur leicht verschwommen zu erkennen. Paul neigte den Kopf und sah, dass Helen die Augen geschlossen hatte.
    »Bitte«, murmelte sie, »mach es aus, jetzt gleich. Albert ging es zum Schluss nicht gut. Ich glaube, der Krebs hatte sein Gehirn angegriffen. Er wollte nur noch sterben.«
    »Wie lange war er krank?«, fragte Paul.
    Die Spinne lag jetzt still an einer fusseligen Stelle nicht ganz in der Mitte des Netzes.
    »Ich möchte nicht daran denken.«
    Helen presste ihren Kopf an seine Schulter, als wolle sie sichdort eingraben. Sie mochte die Gediegenheit des Mannes, seine Direktheit und Beharrlichkeit, und zugleich waren das die Eigenschaften, die sie unangenehm fand. Dann kam ihr der seltsame Gedanke, dass Paul ihr geschickt worden war. Er war am Tag der Bestattung erschienen, oder? Albert hatte ihn geschickt. Er hatte ihr den Biografen geschickt. Und Than-Htay. Die beiden waren Gesandte.
    Immer noch mit geschlossenen Augen sagte sie: »Weißt du, etwas Wunderbares an Albert war sein schauspielerisches Talent. Wenn man mit ihm ausging, hörte er den Leuten immer genau zu und ahmte sie dann nach. An einem Abend wie diesem hätte er sich köstlich damit amüsiert, Aradhna nachzuäffen: Weißt du eigentlich, Helen, wie viele Unberührbare sich im letzten Monat in Ostbengalen kastriert haben? Weißt du, wie viele Witwen in Tamil Nadu auf die Scheiterhaufen ihrer Männer gesprungen sind?«
    »Ich kann ums Verrecken niemanden nachahmen«, sagte Paul.
    »Ich auch nicht, wie du eben gehört hast.«
    »Oh, da bin ich mir nicht so sicher.« Er richtete die Fernbedienung auf den Apparat und schaltete ab. Sie saßen jetzt wieder im Dunkeln.
    »Magst du Kulwant?«, wollte sie wissen.
    »Sehr sogar. Ein witziger Typ. Und nett.«
    Sie rührte sich nicht, aber er stellte fest, dass er seinen Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Vielleicht suchte sie Trost. Trotzdem sagte er unwillkürlich: »Ehrlich gesagt, wenn die Situation eine andere gewesen wäre, hätte ich mir vorstellen können, dass er dein Liebhaber ist.«
    Die Klimaanlage ackerte. Warum hatte er das nur gesagt?
    Schließlich gab sie zurück: »Ach ja, hättest du das?«
    »Wie gesagt, wenn die Situation eine andere gewesen wäre.«
    Helen seufzte. »Und bist du nicht besorgt, dass deinZusammensein mit Helen James mitten in der Nacht deine Beziehung zu der kleinen Miss Massachusetts gefährden könnte?«
    »Wieso?«
    »Nun, ich möchte nichts zerstören, was dir wichtig ist.« Ihr Kopf lag immer noch an seiner Schulter.
    »Wozu diese ständige Ironie?«, protestierte er.
    »Vielleicht um mich zu schützen.«
    Sie grub ihre Finger teuflisch hart in seinen Oberschenkel und sprang im Dunkeln auf.
    »Au!«, schrie Paul erschrocken.
    »Ich mache dir das Gästebett fertig«, sagte sie in ganz anderem Tonfall.
    Dann war sie weg. In einem Zimmer hinter ihm ging Licht an. Sein Bein tat immer noch weh. Nach einer Weile stand er auf und ging hin, um zuzusehen, wie sie ein schmales Einzelbett bezog. Das alles war sehr prickelnd, sehr feminin.
    »Das ist wirklich nett von dir«, sagte er lahm. »Ich kann mir aber auch ein Taxi rufen, wenn du willst.«
    »Bitte bleib.«
    Sie blickte beim Sprechen nicht auf. Ihre Stimme war neutral. Als sie kurz darauf aus dem Zimmer ging, fügte sie hinzu: »Träum schön von deinem kleinen Mädchen. Ich rede inzwischen mit meinem Geist.«

18
    John

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