Träume wie Gold: Roman (German Edition)
schlafen. Ich muss hier raus, verdammt noch mal! Ich ersticke in diesem Haus!«
»Dann komm mit zu mir über die Feiertage, wenigstens bis Neujahr. Nimm dir noch etwas mehr Zeit, ehe du etwas Unwiderrufliches tust.« Ihre Stimme klang wieder ganz ruhig, als sie seine verkrampften Hände nahm. »Jedidiah, es sind schon Monate vergangen, seit Elaine – seit Elaine umgebracht wurde.«
»Ich weiß ganz genau, wie lange es her ist.« Er kannte den exakten Zeitpunkt des Todes seiner Schwester. Schließlich hatte er sie umgebracht. »Ich weiß deine Einladung zu schätzen, Großmutter, aber ich habe bereits etwas vor. Ich schaue mir heute Abend ein Apartment an, drüben an der South Street.«
»Ein Apartment.« Honorias Seufzer war der Ausdruck tiefster Missbilligung. »Also wirklich, Jedidiah, zu derartigem Unsinn besteht wirklich nicht der geringste Anlass. Kauf dir ein anderes Haus, wenn es schon sein muss. Nimm dir ein paar Wochen Urlaub, aber vergrab dich um Himmels willen nicht in irgendeinem finsteren Loch!«
Dass er ein Grinsen zu Stande brachte, überraschte ihn. »In der Anzeige war die Rede von einem ruhigen Luxusapartment in erstklassiger Lage. Nach finsterem Loch klingt das eigentlich nicht. Großmutter…«, er drückte ihre Hand, bevor sie noch weitere Argumente loswerden konnte, »lass es gut sein.«
Sie seufzte wieder, diesmal resigniert. »Ich will doch nur dein Bestes.«
»Das wolltest du immer.« Er unterdrückte ein Schaudern, spürte, wie die Wände ihn zu erdrücken drohten. »Lass uns gehen.«
1. Kapitel
Einem Theater ohne Publikum wohnt eine ganz besondere Magie inne. Die Magie der tausend Möglichkeiten. Die tragenden Stimmen der Schauspieler, die ihre Texte proben, die wandernden Lichtkegel der Scheinwerfer, die Kostüme, die spannungsgeladene Energie und die egozentrischen Schwingungen, die von der Bühne bis in die hintersten Sitzreihen dringen.
Isadora Conroy saugte diese magische Stimmung ein, gab sich ganz diesem Zauber hin, während sie in der Kulisse des Liberty Theaters stand, von wo aus sie die Proben zu ›A Christmas Carol‹ verfolgte. Wie immer genoss sie das Stück, nicht nur, weil sie Dickens liebte, sondern weil die Dramatik konzentrierter Arbeit, kreativer Beleuchtung und exzellent gesprochener Texte sie über alle Maßen faszinierte. In ihren Adern floss eben Theaterblut.
Selbst als sie jetzt ganz still dastand, war dies noch zu spüren. Ihre großen braunen Augen leuchteten vor Aufregung und beherrschten das von einer goldbraunen Haarflut eingerahmte Gesicht. Es war diese Ergriffenheit, die einen Hauch von Röte auf ihre elfenbeinfarbene Haut und ein Lächeln auf ihre vollen Lippen gezaubert hatte. Klare Konturen und weiche Linien beherrschten dieses Gesicht, das trotz seines starken Ausdrucks zugleich anmutig wirkte. Ihr kleiner, aber straffer Körper steckte voller Energie.
Sie war eine Frau, die an allem, was um sie herum vorging, großes Interesse zeigte, die aber auch Fantasie besaß und in dieser schwelgen konnte. Jetzt, da sie ihrem Vater zusah, wie er mit Marleys Ketten rasselte und dem verschreckten Scroge unheilvolle Voraussagen machte, glaubte sie fest an die Existenz von Geistern. Und weil sie daran glaubte, stand in diesem Augenblick nicht mehr ihr Vater vor ihr, sondern der zum Untergang verdammte und bis in
alle Ewigkeit in den Ketten seiner Gier verstrickte Geizhals.
Dann verwandelte sich Marley wieder in Quentin Conroy, den routinierten Schauspieler, Regisseur und Theatermenschen, der jetzt von den Darstellern eine geringfügige Änderung ihrer Positionen verlangte.
»Dora.« Während sie den Gang entlangeilte, hörte sie Ophelia, ihre Schwester, aufgeregt rufen: »Wir haben unseren Zeitplan bereits zwanzig Minuten überzogen.«
»Wir haben keinen Zeitplan«, murmelte Dora, während sie zustimmend nickte, denn die von ihrem Vater gewünschte Änderung war ihrer Meinung nach perfekt. »Auf meinen Einkauftrips gibt es keinen Zeitplan. Ist er nicht fantastisch, Lea?«
Obgleich es ihrem Sinn für Pünktlichkeit und straffe Organisation widersprach, richtete Lea den Blick auf die Bühne und beobachtete ihren Vater. »Ja. Obwohl Gott allein weiß, wie er es durchsteht, jedes Jahr die gleiche Aufführung zu inszenieren.«
»Traditionsbewusstsein«, strahlte Dora. »Das ist die Wurzel des Theaters.« Dass sie die Bühne verlassen hatte, hatte ihre Liebe zum Theater und die Bewunderung für den Mann, der aus einem Text das Letzte herauszuholen
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