Traeume, zart wie Seide
zögernd. „Ich hatte gehofft, dass Alex mit mir sprechen würde.“
Frankie nickte. „Kommen Sie rein. Ich werde ihm sagen, dass Sie hier sind.“
Als sie ins Haus gingen, wandte sich Cassandra wieder an Joy. „Würden Sie mir hinterher vielleicht einige Ihrer Entwürfe zeigen?“
Joy zuckte die Achseln. Vermutlich wollte die andere lediglich höflich sein. „Ich habe heute Morgen ein paar Skizzen überarbeitet, sie liegen noch dort auf dem Tisch.“
Cassandra steuerte sofort darauf zu und betrachtete die Blätter so konzentriert, dass Joy sich plötzlich unwohl in ihrer Haut fühlte. Bisher hatte sie noch niemandem außerhalb der Familie ihre Entwürfe gezeigt. Für jemanden, der einen Escada-Hosenanzug trug, mussten sie stümperhaft wirkten. Krampfhaft unterdrückte Joy den Impuls, Cassandra die Blätter vor der Nase wegzuziehen, doch die stand über den Tisch gebeugt und betrachtete eingehend eine Zeichnung nach der anderen.
Joy folgte ihren Blicken und sah in jedem Entwurf sofort die Fehler, Unzulänglichkeiten und Verbesserungsmöglichkeiten. Aber zweifellos erkannte Cassandra die auch ohne Hilfe, deshalb schwieg Joy nervös.
Als Cassandra schließlich aufblickte, klopfte Joy das Herz bis zum Hals. Bitte sei nett, flehte sie stumm. Sag nichts Vernichtendes.
„Die sind fantastisch“, sagte Cassandra langsam. „Sie haben einen klassischen Stil, besonders bei den Oberteilen, aber der Gesamteffekt ist sehr originell. Die Farbkombinationen wirken ungewöhnlich, und die Schnitte sind meisterhaft.“
In Joys Ohren begann es zu summen.
Cassandra schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Sie sind wirklich sehr gut. Vielleicht sogar mehr als das. Wo haben Sie studiert?“
„An der Universität von Maine.“
„Ich wusste gar nicht, dass es dort einen Studiengang Modedesign gibt.“
„Nein, ich habe einen Abschluss in Betriebswirtschaft.“
„Aber wer hat Ihnen dann das hier beigebracht?“
Joy wurde ein wenig rot. „Nun ja … ich nehme an, ich habe es von den Abendroben meiner Großmutter aus den Fünfzigerjahren gelernt. Sie trug damals natürlich Mainbocher, St. Laurent, Chanel. Ich habe jedes Kleid aufgetrennt und die einzelnen Teile nebeneinandergelegt, um mir die Struktur und Linienführung anzuschauen. Dann habe ich sie von Hand wieder zusammengenäht. Sie trägt die Kleider immer noch, und ich versuche, sie so gut wie möglich für sie zu erhalten. Meine Großmutter leidet an Altersdemenz, und wenn sie ihre gewohnte Kleidung nicht tragen kann, wird es schlimmer. Neue Designerkleidung können wir uns nicht leisten, also habe ich gelernt, die alten Roben immer wieder aufzuarbeiten und zu kopieren. Auf diese Weise habe ich mir wahrscheinlich einiges beigebracht.“
„Das ist außergewöhnlich.“ Cassandras Stimme klang mitfühlend und respektvoll.
Joy war nicht besonders glücklich darüber, dass sich Reeses Witwe als sympathische Person entpuppte. Schlimm genug, sie an Grays Seite zu sehen – aber sie auch noch mögen zu müssen?
Als Frankie wieder in die Küche kam, waren ihre Wangen gerötet, als hätte sie sich aufgeregt.
„Es tut mir leid, Cassandra, er schläft“, erklärte sie.
„Sie meinen, er will mich nicht sehen“, antwortete Cassandra etwas verloren.
„Es tut mir wirklich leid.“
„Wahrscheinlich ist das alles noch zu frisch für ihn“, sagte Cassandra verständnisvoll. „Danke, dass Sie es versucht haben.“
Frankie gab ein kurzes Schnauben von sich. „Er ist einfach so stur und verschlossen“, brach es aus ihr heraus. „Auf niemanden will er hören!“
„Seien Sie nicht böse auf ihn. Er tut bestimmt sein Bestes.“
„Das glaube ich leider nicht. Wie soll er gesund werden, wenn er sich niemandem öffnet?“
„Das ist seine Entscheidung.“ Cassandra atmete tief durch. „Aber ich bin wohl die Letzte, von der Sie Ratschläge hören wollen.“
„Sie sind die Einzige außerhalb der Familie, die das Recht hat, sich einzumischen“, erwiderte Frankie. „Und ein Recht darauf, zu erfahren, was zum Teufel eigentlich passiert ist. Es tut mir so leid.“
„Danke.“ Cassandra schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und wandte sich dann wieder Joys Entwürfen zu. „Sie sind wirklich wunderbar, Joy. Sie sollten unbedingt etwas mit Ihrem Talent anfangen.“
Nachdem Cassandra sich verabschiedet hatte, ging Joy zum Tisch zurück und betrachtete ihre Zeichnungen mit ganz neuen Augen. „Eine nette Frau“, bemerkte sie.
„Ja, ich mag sie auch“, erwiderte
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