Traeume, zart wie Seide
er ja wohl auch kaum nötig, denn welche Frau würde schon Nein sagen, wenn Grayson Bennett sich für sie interessierte? Sie jedenfalls nicht, das musste sie schweren Herzens zugeben. Wenn Gray in der Bibliothek Anstalten gemacht hätte, sie zu küssen, hätte sie keinen Moment gezögert, obwohl sie genau wusste, dass er an eine andere Frau dachte.
Schlimmer konnte es ja nun wohl nicht mehr kommen. Bisher hatte sich alles in ihrer Fantasie abgespielt, aber jetzt wusste sie aus erster Hand, wie sich sein Körper anfühlte. Na gut, das alles hatte nur eine Sekunde gedauert – aber sie konnte ihn immer noch spüren. Und sich nur zu gut vorstellen, wie es hätte weitergehen können, wenn Cassandra nicht hereingekommen wäre …
Verzweifelt schloss Joy die Augen. Warum machte es ihr nur so viel aus, Gray mit einer anderen Frau zu sehen? Der Mann war für sie doch sowieso völlig unerreichbar! Und selbst wenn nicht – an so unerfahrenen Frauen wie ihr hatte er bestimmt kein Interesse.
Schlimm genug, dass sie mit siebenundzwanzig noch Jungfrau war – aber auch sonst mangelte es ihr eindeutig an Erfahrung. Sicher, sie hatte wie die anderen Mädchen auf der Highschool mit ein paar Jungen rumgeknutscht. Aber schon im College, wo die anderen erste Beziehungserfahrungen sammelten, hatte sie zu viel um die Ohren gehabt, um sich mit Jungs einzulassen. Sie wollte ihr Studium so schnell wie möglich abschließen und gleichzeitig etwas dazuverdienen, um Frankie zu entlasten. Nach ihrem Abschluss war sie direkt nach Hause gekommen, und seitdem kümmerte sie sich um Grand-Em.
Tja, sie war eine alte Jungfer, anders konnte man es wohl kaum ausdrücken. Und sie hätte natürlich von Anfang an wissen sollen, dass nichts Gutes dabei herauskam, wenn sie einen Abend im Haus von Gray Bennett verbrachte.
Einen Vorteil hat die Sache ja, dachte sie, als sie das Fahrrad in den Schuppen stellte. Schlafen kann ich jetzt sowieso nicht, also wird wenigstens Frankies Hochzeitskleid rechtzeitig fertig.
4. KAPITEL
Am nächsten Morgen waren sie gerade bei der Anprobe, als auf dem Hof der alte Truck des Gemüselieferanten zu hören war. Frankie stürzte zur Tür und war schon halb die Treppe hinunter, bevor Joy aufstehen konnte.
„Warte, du kannst doch nicht in dem Kleid …“
„Ich muss unbedingt mit Stu sprechen“, rief Frankie über die Schulter zurück. „Sein Telefon ist kaputt.“
Joy rannte ihr nach und griff nach der Schleppe, bevor Frankie die Küche erreichte. Nate und Spike hielten zwar stets alles peinlichst sauber, aber trotzdem musste der empfindliche Satin nicht unbedingt mit dem Küchenboden in Berührung kommen.
Die Schleppe über dem Arm, trat Joy hinter Frankie auf den Hof. Falls der alte, wettergegerbte Gemüsehändler überrascht war, Frankie im Brautkleid anzutreffen, ließ er sich davon nichts anmerken.
„Nate und Spike brauchen eine Sonderlieferung Steinpilze“, stieß Frankie atemlos hervor. „Gibt’s irgendeine Möglichkeit …“
„Jawoll.“
„Bis Dienstag?“
„Jawoll.“
„Stu, du bist ein Schatz. Danke!“
Als der Gemüsehändler wieder abgefahren war und Joy ihre Schwester gerade überzeugen wollte, zuerst einmal das Kleid auszuziehen, kam ein großer BMW die Auffahrt herauf. Joy erkannte ihn sofort als Grays und ließ vor Überraschung die Schleppe fallen.
Doch dann öffnete sich die Fahrertür, und Cassandra stieg aus.
„Guten Morgen“, grüßte Frankie herzlich.
„Hi.“ Cassandra lächelte, doch ihre Miene wirkte ein wenig angespannt. Dann allerdings fiel ihr Blick auf das Kleid. „Lieber Himmel, das ist ja ein Traum“, hauchte sie.
Frankie drehte sich um die eigene Achse, und der Satinrock bauschte sich elegant. „Ja, nicht wahr?“
„Von wem ist es?“, fragte Cassandra. „Narciso Rodriguez? Nein, warte – es muss ein Michael Kors sein.“
„Es ist von ihr.“ Frankie deutete auf Joy.
„Sie haben das gemacht?“ Aus ihrer Stimme klang Erstaunen.
Joy nickte.
Cassandra ging um Frankie herum und begutachtete fachmännisch die Säume und Abnäher. „Sie haben dieses Kleid wirklich selbst entworfen und genäht?“
„Ja, das ist mein Hobby.“
„Sie sind sehr gut. Haben Sie noch andere?“
„Kleider nicht, aber tonnenweise Entwürfe. Ich könnte das ganze Haus mit meinen Skizzen tapezieren.“
„Sie sind wirklich sehr talentiert“, wiederholte Cassandra. Als ihr Blick wieder auf Frankie fiel, wurde sie ernst. „Ich hätte wohl vorher anrufen sollen“, sagte sie
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